»Wir suchen immer noch nach einem Haus, Meredith und ich. Nein, nicht auf dem Friedhof. Wir haben uns das alte Vikariat in unmittelbarer Nachbarschaft angesehen.«

»Und? Taugt es zu etwas?«, erkundigte sich Pearce, plötzlich von der schwachen Hoffnung erfüllt, seinen Boss von den Knochen abzulenken.

»Ich würde sagen, es hat seine Möglichkeiten«, antwortete Markby.

»Allerdings ist es ziemlich groß.« Er fasste die zerknitterte Karte an einer Seite an und zupfte, sodass die Knochen rasselten.

»Ohne dass ein Experte einen Blick darauf geworfen hat, würde ich sagen, dass sie seit wenigstens zwanzig Jahren im Wald gelegen haben. Aber das ist immer noch kurz genug, Dave, um uns zu interessieren.«

»Wahrscheinlich irgendein alter Landstreicher, der an Unterkühlung gestorben ist«, beharrte Pearce angesichts der sicheren Niederlage.

»Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen, Dave«, ermahnte Markby ihn ernst.

»Werfen Sie einen Blick auf den Kieferknochen.« Das war nun ausgerechnet das Letzte, was Pearce gebrauchen konnte. Sein eigener Zahn meldete sich deutlich, als er vorsichtig den Kieferknochen aufhob.

»Und?«, fragte Markby.

»Fällt Ihnen etwas auf?«

Was bedeutete, dass es etwas Auffälliges geben musste. Markby hatte es bereits entdeckt, und es war besser für Pearce, wenn er es ebenfalls rasch bemerkte. Und das tat er.

»Ziemlich kunstvoller Zahnersatz hier. So etwas hab ich noch nie gesehen.« Noch gefiel ihm der Anblick oder der Gedanke daran. In den Kiefer implantiert war ein farbloses Stück Metall, das in seiner Form an einen Weihnachtsbaum erinnerte. Pearce seufzte. Seine Hoffnung, dass die Überreste historisch waren, schwand dahin. Und Landstreicher liefen normalerweise ebenfalls nicht mit derart kostspieligen zahntechnischen Arbeiten im Kiefer herum.

»Man nennt es Implantat«, informierte Markby ihn.

»Und dieser Typ hier nennt sich Weihnachtsbaum-Implantat. Ich weiß das«, erklärte er,

»weil ich meinen Zahnarzt angerufen habe, bevor Sie hergekommen sind, und ihm dieses Ding beschrieben habe.«

Pearce fragte sich, um welche Uhrzeit Markby an diesem Tag ins Büro gekommen sein mochte. Ziemlich früh, wie es schien. Pearce arbeitete seit einer Reihe von Jahren mit Markby zusammen. Er wusste, dass diese Frühaufstehertour in der Regel bedeutete, dass Markby wegen irgendetwas unzufrieden war, das nicht notwendigerweise irgendetwas mit Polizeiarbeit zu tun hatte. Indem er früh zur Arbeit ging und ein anderes Problem fand, über das er sich den Kopf zerbrechen konnte, gelang es ihm, seine Unzufriedenheit in den Griff zu kriegen. Es war wahrscheinlich die Suche nach einem Haus, dachte Pearce nicht ohne Mitgefühl. Er und Tessa hatten Ähnliches durchgemacht, bevor sie ihr Haus gefunden hatten. Er hoffte nur, dass der häusliche Frust nicht dazu führte, dass Markby alles, was ihm in den Weg kam, Pearce unter die Nase schob. Insbesondere dann, wenn es irgendwas mit Zähnen zu tun hatte.

»Mehr noch«, fuhr Markby fort, entschlossen, wie es schien, über Zähne und sonst nichts zu reden,

»mehr noch, vor ungefähr zwanzig Jahren – vorausgesetzt, das ist das Alter der Knochen, auch wenn wir im Moment nur raten können – waren derartige zahntechnische Arbeiten etwas höchst Seltenes und nur bei wenigen Spezialisten zu erhalten. Was bedeutet, dass wir vielleicht im Stande sind, diese Arbeit dort zurückzuverfolgen. Das Metallstück hat eine Art Stempel oder Gravur.«

»O ja …« Pearce vergaß für den Moment seine persönliche Aversion und schielte auf das Implantat.

»Wie ein Goldstempel oder so was.«

»Ein Herstellerstempel, höchstwahrscheinlich. Machen Sie sich an die Arbeit, Dave.« Einfach so. Es würde ihn den ganzen Tag auf Trab halten. Was bedeutete, dass er wahrscheinlich keine Zeit finden würde, wegen seines eigenen schmerzenden Zahns bei seinem Zahnarzt anzurufen. Er sammelte die mysteriösen Knochen ein.

»Ich bringe sie rüber zu unseren Eierköpfen«, sagte er. Doch Markby hatte noch etwas für ihn. Er nahm einen Aktenordner vom Schreibtisch, dem Aussehen nach einen ziemlich alten.

»Vielleicht«, sagte Markby,

»sollten Sie sich diesen alten Fall zu Gemüte führen, Dave. Er könnte etwas mit der Sache zu tun haben.« Pearce nahm die Akte und klemmte sie sich zusammen mit dem Knochenpaket unter den Arm.

»Richtig, Sir«, sagte er und schob sich in Richtung Tür und nach draußen, bevor der Boss ihm noch mehr aufhalsen konnte.

Noch jemand erlebte einen frustrierenden Morgen.

»Guten Morgen!«, sagte der junge Mann unbekümmert. Er trug ein weißes Hemd und eine bunte Krawatte. Sein Jackett hing über der Stuhllehne. Er hatte eines von jenen fülligen, mit den persönlichen Lebensumständen höchst zufriedenen Gesichtern und einen kurzen Haarschnitt, der entsprechend der gegenwärtigen Mode mit Gel zu Igelspitzen frisiert war. Meredith bemerkte zufrieden, dass er, obwohl sicherlich zehn Jahre jünger als sie, die ersten Anzeichen eines Bierbauchs besaß.

»Guten Morgen«, echote sie und nahm ihm gegenüber Platz. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen zusammen.

»Nun«, sagte er freundlich.

»Waren Sie in Lower Stovey und haben sich die Immobilie angesehen?«

»Wir waren dort, Mr. …«, Meredith warf einen Blick auf das Schild auf seinem Schreibtisch. Dort stand einfach nur

»Gary«.

»… Mr. Gary«, fuhr sie fort.

»Wir waren dort und haben es besichtigt. Verraten Sie mir doch, ob Sie es ebenfalls gesehen haben?« Er blinzelte überrascht.

»Nein, ich glaube nicht, dass ich die Schätzung vorgenommen habe. Warten Sie, ich sehe nach.« Er blätterte in seinen Unterlagen.

»Nein. Cindy war dort.« Und wie alt ist Cindy wohl? Neunzehn?, scharrte Meredith innerlich.

»Ich darf Ihnen allerdings verraten«, fuhr Gary unbekümmert fort,

»dass meine Kollegin höchst beeindruckt war von diesem Objekt. Wirklich höchst beeindruckt.«

»Mit Kollegin meinen Sie in diesem Fall Cindy, nehme ich an?«, entgegnete Meredith eisig, und ohne auf eine Bestätigung zu warten, fuhr sie fort:

»Nur zur Information, Mr. Gary – was genau hat Ihre Kollegin an Old Vicarage, Lower Stovey beeindruckt?«

»Es ist einzigartig«, antwortete Gary ernst.

»Ein ausgezeichnetes Wohnhaus mit großzügigen Räumlichkeiten.«

»Es ist riesig. Es hat fünf Zimmer, die Dienstbotenzimmer unter dem Dach nicht mitgezählt.«

»Der Dachboden könnte zu einem fantastischen Erholungsraum umgebaut werden. Billard, Pingpong, Sportgeräte …« Er strahlte sie an.

»Cindy ist überzeugt, dass sich all das verwirklichen ließe. Ein fantastisches Haus. Genügend Platz für eine Kegelbahn.«

»Ich brauche weder eine Kegelbahn in meinem Haus noch einen Billardtisch. Und was die Sportgeräte angeht, ich habe ein Trainingsfahrrad, und das benötigt nur sehr wenig Platz. Es geht mir nicht so sehr um Platz, wissen Sie, sondern mehr um den allgemeinen Zustand. Sie wissen sicherlich, dass die Zentralheizung uralt ist und nicht mehr funktioniert? Ich will lieber gar nicht erst über den Zustand der Elektrik nachdenken!«

»Sicherlich sind einige Modernisierungsarbeiten erforderlich«, stimmte er Meredith zögernd zu.

»Doch das spiegelt sich selbstverständlich im Kaufpreis wider, Miss Meredith.«

»Die Küche ist jahrhundertealt!«

»Aber wunderbar groß.«

»Die Schiebefenster sind verzogen und klemmen.«

»Sie waren damals eben so und sind original erhalten.«

»Der Garten ist vollkommen verwildert.« Er hatte auch darauf seine Antwort parat. Er strahlte Meredith an.

»Wenn ich recht informiert bin, ist Mr. Markby ein leidenschaftlicher Gärtner! Jede Menge Betätigung für ihn dort draußen! Sie könnten Ihr eigenes Gemüse anbauen …« Inspiriert fügte er hinzu:

»Organischbiologisch, voller Geschmack und Vitamine!«

»Und Lower Stovey liegt völlig abgeschnitten am Ende der Welt, am Ende einer Straße, die hinter dem Dorf aufhört, vor dem Wald!« Er stieß mit dem Zeigefinger in ihre Richtung.

»Kapiert. Vollkommen abgeschieden und …«, er hob triumphierend die Stimme,

»… ohne Risiko einer weiteren Entwicklung! Die alte Viehtrift verläuft unmittelbar hinter dem Dorf und mitten durch den Wald. Sie steht unter Denkmalschutz. Es ist eine historische Straße, verstehen Sie? Niemand wird eine Autostraße bauen oder zweihundert Einfamilienhäuser dort hinstellen. Glauben Sie mir, ein Haus in einem Ort wie Lower Stovey kommt nicht jeden Tag auf den Markt!« Meredith lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und stieß einen Seufzer aus.

»Haben Sie denn sonst nichts in Ihren Akten?«

»Sicher, jede Menge.« Er nickte.

»Aber nicht das, wonach Sie suchen. Drei Zimmer Doppelhaushälfte? Kein Problem. Allein stehend mit Garage und einem Parkplatz extra? Da könnte ich Ihnen vielleicht zwei oder drei zeigen. Oder ein hübscher kleiner Bungalow?« Er schüttelte den Kopf.

»Aber das wollen Sie alles nicht, oder? Sie und Mr. Markby, Sie wollen etwas mit Charakter. Sie wollen alten Charme.« Er beugte sich über den Schreibtisch zu ihr vor und fügte in heiserem Flüstern hinzu:

»Sie wollen etwas Besseres.« Das letzte Wort klang beinahe wie etwas Verderbtes.

»Wie steht es mit einem großen Cottage?«, fragte Meredith verzweifelt. Er breitete die Arme aus.

»Im Augenblick – keine Chance. Meinen Sie nicht, ich würde Ihnen liebend gerne eins zeigen? Selbstverständlich würde ich das – aber sie sind wie heiße Semmeln, verstehen Sie? Kommen kaum jemals auf den freien Markt. Sobald sich die Nachricht herumspricht, dass eins zum Verkauf steht, ist es auch schon wieder weg. Und bei mir treten sich die Kaufwilligen gegenseitig auf die Füße und trampeln sich tot, um als Erste zum Zug zu kommen.«

»Und wieso treten sie sich nicht auf die Füße und überbieten sich gegenseitig bei dem alten Vikariat?« Gary verschränkte die Hände.

»Ich bin sicher«, sagte er zuversichtlich,

»dass die gegenwärtige Besitzerin, Mrs. Scott, jedes vernünftige Angebot akzeptieren würde.« Meredith wusste, dass es ein Fehler war – trotzdem hörte sie sich fragen:

»Wie vernünftig?« Er tippte sich gegen den Nasenflügel.

»Überlassen Sie das mir. Ich werde sie ein wenig herunterhandeln.«

»Warten Sie!«, protestierte Meredith. Der Kerl versuchte doch tatsächlich, sie auszumanövrieren!

»Lassen wir Lower Stovey für den Augenblick mal beiseite, ja? Wir kommen darauf zurück.« Sie erhob sich.

»Bis dahin werden wir weitersuchen.« Der Makler interpretierte ihre Worte ganz richtig dahingehend, dass sie und Alan zu einem Konkurrenten zu gehen gedachten.

»Seien Sie nicht zu voreilig. Lassen Sie mich mit Mrs. Scott reden. Während Sie warten …«, er blickte sich suchend um, dann hellte sich seine Miene auf.

»Während Sie auf ein Angebot warten, könnten Sie sich Hill House ansehen. Es verfügt über eine atemberaubende Aussicht auf unberührtes Land. Stellen Sie sich vor, es steht seit zwei Jahren leer, und vor etwa einem Jahr gab es kurz Ärger, als ein paar Hippies eingebrochen sind und für einen Monat oder zwei im Haus gecampt haben. Seitdem ist es vernagelt. Es ist ein wunderschönes spätgeorgianisches Haus.«

»Vergessen Sie’s«, sagte Meredith.

»Warten Sie doch wenigstens, bis ich mit Mrs. Scott gesprochen habe«, drängte er.

»Warum fahren Sie denn nicht hin und sehen sich noch einmal um? Ich kann Ihnen verraten, sobald sich die Nachricht herumspricht …«

»Rennen Ihnen die potentiellen Käufer die Türen ein, ich weiß.« Hill House andererseits klang noch unermesslich schlimmer.

»Wir werden darüber nachdenken«, sagte sie.

Meredith dachte immer noch über den mangelnden Erfolg bei der Suche nach einem gemeinsamen Haus nach, als sie am nächsten Morgen in einem überfüllten Pendlerzug nach London und von dort aus in einer überfüllten U-Bahn zu ihrer Arbeit im Foreign Office fuhr. Gary, der Makler, so schloss sie nach einigem Überlegen, hatte ihr nur deshalb von Hill House erzählt, um Old Vicarage in Lower Stovey erstrebenswerter scheinen zu lassen.

Kurz vor der Mittagspause rief eine alte Freundin an, Juliet Painter.

»Ich habe dich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, Meredith. Ich dachte, wenn du nicht direkt nach der Arbeit nach Hause fahren musst, könnten wir uns heute nach Feierabend irgendwo zu einer Schüssel Spaghetti treffen.«

»Wo ist Doug?«, erkundigte sich Meredith.

 

»Frag mich nicht. Er arbeitet wahrscheinlich.« In Juliets

Stimme schwang ein Hauch von Ärger mit.

»Das wird dich lehren, dich mit einem Polizisten einzulas sen«, sagte Meredith wenig mitfühlend. Wie Juliet zurzeit herausfand und Meredith längst gelernt hatte, wurden Polizisten genau wie Ärzte häufig zu den unpassendsten Zeiten zu Dienst gerufen.

»Wo sollen wir uns treffen?«, fragte sie freundlich. Das Restaurant, das Juliet vorschwebte, lag in Soho, abseits der Dean Street.

»Weil es hier so hübsch lebendig ist«, sagte sie zu Meredith, als die beiden Frauen an einem Tisch Platz genommen hatten.

»Man kann das Leben auf der Straße durch das Fenster beobachten. Siehst du?« Sie deutete durch das Glas auf den belebten Bürgersteig.

»Doug und ich lieben es.« In den letzten Worten hatte eine Andeutung von Trotz mitgeschwungen, glaubte Meredith zu hören.

»Das wird allmählich eine ziemlich ernste Geschichte mit dir und Superintendent Minchin, habe ich Recht?« Meredith studierte Juliets Gesichtszüge.

»Du hast dich verändert. Wo ist deine Brille?«

»Ich trage jetzt Kontaktlinsen.« Juliet nahm eine der beiden Speisekarten, die ein Kellner ihnen brachte. Ihr Tonfall war verdächtig überspannt.

»Ich dachte, du würdest keine Kontaktlinsen vertragen?«

»Es gibt jetzt eine neue Sorte. Damit komme ich besser zurecht.« Juliet schob das Kinn vor und warf die einzelne Strähne langer Haare zurück.

»Es ist nicht wegen Doug, falls du das denkst. So ernst ist es nicht zwischen uns, bilde dir nichts ein. Lange nicht so ernst wie zwischen dir und Alan«, zahlte sie Meredith ihre Bosheiten heim. Meredith starrte finster auf die Speisekarte.

»Ich weiß nicht, wie ernst es mir ist. Alan ist es jedenfalls sehr ernst.«

»Hey, kriegst du etwa kalte Füße?«

»Vermutlich, ja«, räumte Meredith ein.

»Das ist nur dieses ganze Gerede von wegen Hochzeit und so«, sagte Juliet entschieden.

»Hör mal, ich kann verstehen, dass du nervös bist, selbst wenn Alan es nicht versteht. Er war schließlich schon einmal verheiratet und weiß, worauf er sich einlässt. Er ist inzwischen sicher fünfundvierzig, und das ist ein merkwürdiges Alter bei Männern. Er will sich niederlassen und zur Ruhe kommen. Du und ich, wir sind an unsere Unabhängigkeit gewöhnt. Aber das Leben bleibt nicht stehen. Du bist wie alt? Siebenunddreißig? Möchte Alan Kinder?«

»Wir haben nie darüber geredet! Außerdem denke ich nicht, dass er mich heiraten möchte, weil er sich vorstellt, am Kopfende eines langen Tisches zu sitzen und auf eine Reihe kleiner rosiger Gesichter zu blicken. Ich hoffe jedenfalls verdammt noch mal, dass es so ist. Außerdem bin ich zu alt, um jetzt noch mit einer Großfamilie anzufangen. Ein Kind, vielleicht zwei, damit käme ich vielleicht – wohl gemerkt, vielleicht! – zurecht. Aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich hatte noch nie im Leben was mit Babys zu tun. Ich war ein Einzelkind. Im Augenblick erscheint mir all das nur als weitere Komplikation, und eine Ehe allein ist in meinen Augen schon kompliziert genug. Ich habe noch nie mit jemandem zusammengewohnt, nicht unter einem Dach und ganz sicher nicht für längere Zeit. Ob es nun bei Alan war oder bei irgendeinem anderen Mann, ich habe immer auf meiner eigenen Wohnung bestanden. Als ich noch beim Diplomatic Service und im Aus land tätig war, hatte ich immer meine Dienstwohnung.« Sie seufzte.

»Ich war gerne im Ausland, Juliet. Ich hab eine Ewigkeit versucht, wieder einen Posten im Ausland zu bekommen, ganz egal wo. Heute weiß ich, dass es nicht mehr passieren wird, und ich hänge hinter meinem Schreibtisch im Foreign Office fest, bis ich pensioniert werde. Ich will ganz ehrlich sein, die Aussicht gefiel mir kein Stück. Ich war lange Zeit frustriert und unzufrieden, und der arme Alan hat alles abgekriegt. Es war eine schwierige Zeit für ihn, das ist mir völlig klar. Aber mir ist inzwischen auch klar, dass die Jahre im Ausland nicht das absolut Beste waren, längst nicht so gut, wie ich immer geglaubt habe. Ich hatte zwar ein sehr befriedigendes, aber auch ein entschieden absonderliches, künstliches Leben. Es hat mich zu einer absonderlichen Person gemacht.«

»Wer ist das nicht?«, fragte Juliet.

»Du weißt, wie ich das meine. Dieses Zusammenziehen, das alle anderen wie etwas ganz Natürliches empfinden, macht mich nervös. Verstehst du – Alan und ich haben versucht, in seinem Haus gemeinsam zu wohnen, während mein Haus renoviert wurde, aber es war irgendwie – ich weiß nicht. Es war irgendwie unnatürlich. Um offen zu sein, nach Jahren des Nomadenlebens macht mir allein die Vorstellung Angst, irgendwo Wurzeln zu schlagen.«

»Du würdest wunderbar zurechtkommen, wenn du erst verheiratet wärst«, sagte Juliet.

»Du musst dir nur endlich mal ein Herz nehmen. Augen zu und durch, Meredith.« Juliet strahlte sie lächelnd an.

»Es macht mir nichts aus, wenn du wie eine Briefkastentante mit mir redest«, verteidigte sich Meredith.

»Ich liebe Alan, ganz ehrlich! Es ist nur die Vorstellung, dass wir uns immer auf den Füßen stehen könnten … jeden Abend nach Hause zu kommen und gefragt zu werden: ›Wie war dein Tag, Liebling?‹ Sich immer mit irgendjemandem abstimmen zu müssen, selbst wenn man sich mit einer Freundin zum Abendessen trifft, so wie wir jetzt. Und dieses … jemandem angetraut zu sein. Verstehst du, das ist Alans Vorstellung von häuslichem Segen, nicht meine!«

»Gib dem armen Kerl doch eine Chance! Er wünscht sich nichts mehr, als sich um dich zu kümmern und für dich zu sorgen.«

»Ich kann sehr gut selbst für mich sorgen, danke sehr, und das tue ich inzwischen seit einer ganzen Reihe von Jahren! Alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen.« Sie seufzte.

»Ich bin sicher, Alan vermutet insgeheim, dass ich die Suche nach einem Haus absichtlich in die Länge ziehe. Aber ganz ehrlich, wir haben bis jetzt noch nicht ein einziges Haus gesehen, das bei mir ein Gefühl geweckt hätte, als könnte ich dort leben – mit oder ohne Alan.« Der Kellner kam an ihren Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen.

»Ich möchte die Cannelloni mit Spinat und Ricotta«, sagte Meredith.

»Und ich nehme das Polio milanese«, fügte Juliet hinzu.

»Außerdem eine Flasche Rotwein, Hausmarke. Er ist nämlich ganz ausgezeichnet, Meredith. Wir beide zusammen schaffen doch eine Flasche, oder?«

»Wie ich mich fühle, könnte ich eine Flasche alleine trinken!«, entgegnete Meredith, nachdem der Kellner gegangen war.

»Juliet, du bist doch auch in diesem Geschäft – kennst du denn nicht irgendein hübsches Haus, das für uns geeignet wäre?«

»Ich bin keine Immobilienmaklerin«, erinnerte Juliet ihre Freundin.

»Ich bin Vermögensberaterin. Ich suche Häuser für die Reichen und Berühmten und manchmal für die noch Reicheren, die darauf achten, bloß nicht berühmt zu werden. Wenn ich etwas wüsste, würde ich es dir sagen, sofort. Aber ihr sucht in der Gegend von Bamford, nicht wahr? Dort gibt es nicht so viele Häuser von der Sorte, die ihr ins Auge gefasst habt, zumindest nicht in gutem Zustand.« Meredith erzählte ihr von Old Vicarage in Lower Stovey und schließlich, einem Impuls nachgebend, auch noch von Hill House, obwohl sie es noch nicht gesehen hatte.

»Vergiss Hill House!«, sagte Juliet augenblicklich.

»Ich war dort. Das Haus liegt mehr oder weniger in Trümmern, und es würde ein kleines Vermögen kosten, es wieder herzurichten!«

»Damit kommt es für uns nicht infrage!«, sagte Meredith erleichtert.

»Aber dieses alte Vikariat, das wäre eine Möglichkeit. Ich denke, ihr solltet es euch noch einmal ansehen. Was all die Zimmer angeht, habt ihr wahrscheinlich nur nicht gründlich genug nachgedacht. Fünf Hauptschlafzimmer, hast du erzählt, richtig? Eines wird ein Arbeitszimmer für dich, sodass du hin und wieder auch von zu Hause aus arbeiten kannst, das macht jeder. Ein zweites Arbeitszimmer für Alan. Damit wären nur noch drei übrig, und mehr würdet ihr in einer Doppelhaushälfte auch nicht haben.«

»Aber unter dem Dach sind noch mal fünf oder sechs kleine Mansarden! Cindy, die bei unserem Immobilienmakler arbeitet, scheint zu denken, dass irgendjemand dort oben ein Spielzimmer oder einen Fitnessraum einrichten könnte!«

»Die Idee ist gar nicht so falsch, Meredith. Sieh mal, wenn Mrs. Scott so begierig darauf ist zu verkaufen und wenn die Zentralheizung nicht mehr funktioniert und die Fenster klemmen und so weiter, dann kann sie keinen guten Preis nehmen. Hey, ihr könntet ein Geschäft machen!«

»Ja, sicher, zugegeben«, stimmte Meredith unter dem Anprall von Juliets Begeisterung zu.

»Ich nehme mir nächste Woche zwei Tage frei, und dann fahren wir hin und sehen es uns noch einmal genauer an.«

»Wenn es dann überhaupt noch zu haben ist«, gab Juliet zu bedenken.

»Glaub mir«, versicherte Meredith ihr,

»ich bin ziemlich sicher, dass es noch zu haben sein wird!«

»Bis heute Abend, Großpapa!«, sagte Becky Jones am Donnerstagmorgen.

Sie gab dem alten Mann einen Kuss auf die kahle Stirn mit den Leberflecken und dem Kranz weißer Haare. Er saß allein am Frühstückstisch, am Kopfende, wo er immer gesessen hatte, im gleichen alten Windsor-Sessel mit den Lehnen, die samtweich poliert waren vom fünfzig Jahre oder länger währenden Griff seiner Hände. Doch die Autorität, die dieser Griff früher einmal impliziert hatte, war längst dahingeschwunden und kaum mehr ein Schatten von damals. Er war wie immer der Letzte, der mit dem Essen fertig wurde, während er langsam und methodisch seinen längst kalt gewordenen gebratenen Speck und die dicken gebutterten Scheiben Brot kaute.

»Richtig«, antwortete er.

»Hör auf das, was der Lehrer sagt, damit du etwas lernst.« Er kicherte über seinen eigenen Witz. Er sagte an jedem Morgen die gleichen Worte zum Abschied, und seine dreizehn Jahre alte Enkeltochter gab stets die gleiche abwesende Antwort, während sie ihre Bücher einsammelte und in die Schultasche stopfte. Von draußen auf dem Farmhof kam die Stimme ihrer Mutter, die sie ungeduldig aufforderte:

»Beeil dich, Herrgott noch mal!« Becky huschte nach draußen und kletterte auf den Beifahrersitz des ältlichen Familienautos. Mrs. Jones legte den Gang ein, und der Wagen rollte durch das Tor und den Weg hinunter, der die Farm mit der schlaglochübersäten Straße verband. Er führte nach links mitten durch Stovey Woods und an Lower Stovey vorbei nach Bamford. Becky war Schülerin am Bamford Community College.

»Im Radio haben sie gesagt, heute Morgen wäre besonders starker Verkehr auf der Hauptstraße«, sagte Linda Jones missmutig.

»Es gibt wohl eine Umleitung wegen Straßenarbeiten oder so. Ich wünschte wirklich, du würdest morgens schneller fertig werden, Becky. Du weißt genau, dass wir eine halbe Stunde brauchen, um zur Schule zu kommen.«

»Ich habe nur Großvater noch Tschüss gesagt«, verteidigte sich ihre Tochter. Linda seufzte.

»Noch jemand, der nicht in die Gänge kommt. Er braucht jeden Tag länger für sein Frühstück, habe ich das Gefühl. Dein Dad regt sich furchtbar darüber auf.«

»Warum sollte er sich darüber aufregen? Es stört ihn doch nicht. Er muss den Frühstückstisch nicht abräumen, oder? Das machst du.« Der Wagen holperte über eine Furche und bog auf die Straße in Richtung Dorf ab.

»Das ist es nicht, Beck. Dein Vater hat in letzter Zeit eine Menge Sorgen, nachdem die Preise für das Vieh so nach unten gegangen sind. Und er sorgt sich über deinen Großvater.«

»Großvater geht es gut!«, sagte Becky mit trotzig erhobener Stimme, die klang, als stünde sie am Rand der Tränen.

»Es ist alles in Ordnung mit ihm! Er isst so langsam, weil seine Zähne nicht mehr gut sind.« Linda warf einen Seitenblick zu ihrer Tochter und sagte beruhigend:

»Das ist mir schon klar. Ich weiß, dass alles in Ordnung ist mit ihm. Ehrlich.« Was ganz sicher nicht der Wahrheit entsprach, dachte sie traurig. Unwillkürlich kam ein leiser Seufzer über ihre Lippen. Becky hörte es.

»Ist alles in Ordnung, Mum? Ich meine, abgesehen davon, dass das Vieh keine vernünftigen Preise erzielt und von allem anderen? Dad regt sich nicht wieder wegen Gordon auf, oder?«

»Gordon? Nein!«, Mrs. Jones riss das Lenkrad herum, um einer Katze auszuweichen, die beschlossen hatte, sich mitten auf der Straße niederzulassen.

»Nichts dergleichen, Beck. Er ist ein wenig sauer auf Old Billy Twelvetrees, das ist alles.«

»Der arme alte Mr. Twelvetrees«, sagte Becky.

»Von wegen, der arme alte Mr. Twelvetrees!«, stieß ihre Mutter hervor.

»Er ist ein Tunichtgut von einem alten Halunken, das ist Billy Twelvetrees!« Becky räumte ein, dass Billy Twelvetrees eine Klatschbase war und manchmal ein altes Ekel.

»Aber Dad würde ihn doch nicht aus dem Cottage werfen, oder?«

»Selbstverständlich nicht. Ganz bestimmt nicht, solange dein Großvater am Leben ist, und hinauswerfen schon mal gar nicht. Aber dieses Cottage würde eine Menge Geld bringen, Becky, und na ja, wenn Mr. Twelvetrees nicht wäre, könnten wir es ein wenig renovieren und für eine hübsche Summe verkaufen. Das Geld käme uns ziemlich gelegen.«

»Du meinst, ihr würdet es an irgendwelche Leute aus der Stadt verkaufen, die nur am Wochenende herkommen!«, sagte Becky verächtlich. Sie passierten die Kirche, während sie redete, und Becky fügte hinzu:

»Ich weiß überhaupt nicht, warum Leute auf die Idee kommen, sich ein Haus in Lower Stovey zu kaufen! Es ist todlangweilig hier!«

»Es ist ruhig«, verbesserte ihre Mutter sie.

»Es ist sterbenslangweilig und sonst gar nichts!«, beharrte die jüngere Generation unnachgiebig. Linda argumentierte nicht dagegen. Sie ließen das Dorf hinter sich und erreichten die Kreuzung zur Hauptstraße. Tatsächlich herrschte an diesem Tag überdurchschnittlich starker Verkehr. Es würde Ewigkeiten dauern, bis sie abbiegen konnte. Schließlich, nachdem es ihr gelungen war, sich in die zäh fließende Fahrzeugkolonne einzuordnen, nahm sie die Unterhaltung wieder auf.

»Es gibt schlimmere Gegenden als Lower Stovey«, sagte sie. Sie wusste, dass es ihrer Stimme an Überzeugung mangelte. Die Worte waren ein Mantra, das sie sich selbst seit mehr als zwanzig Jahren immer und immer wieder aufgesagt hatte, und doch war sie nicht überzeugt. Sie hatte gehofft, dass sie, indem sie es sagte, schlimme Dinge abwenden konnte. Doch sie waren zurückgekehrt, erst vor kürzester Zeit, mit dem Auffinden dieser elenden Knochen. Linda vermochte nicht in die Zukunft zu sehen, und sie sagte sich, dass sie es auch überhaupt nicht wollte. Sie hatte bereits resigniert gegenüber dem, was sie bringen würde. Becky würde aus dem Stall flüchten, sobald sie mit der Schule fertig war, genau wie es Gordon getan hatte. In weniger als fünf Jahren würde die Zeit kommen, vor der sie sich fürchtete, allein mit Kevin, beide Kinder von zu Hause fort, und ihr Schwiegervater wahrscheinlich bis dahin tot. Sie und Kevin wären allein auf der Greenjack Farm und würden sich über den Tisch hinweg anstarren, und keiner von beiden hätte dem anderen etwas zu sagen. Nichts würde ihnen bleiben außer Erinnerungen, und darüber wollten sie nicht reden. Doch Kevin war ein guter Ehemann, loyal und fleißig. Er gab sich die größte Mühe, für sie und Becky zu sorgen und für seinen zunehmend senilen Vater. Er kümmerte sich auch um Gordon. Sie wünschte, er käme besser zurecht mit Gordon. Es war nicht schön, dass sie stets in der Mitte zwischen beiden Fronten saß, mit beiden Seiten mitfühlte und versuchen musste, den Frieden zu bewahren. Natürlich hatte Gordon nicht auf der Farm bleiben wollen. Warum sollte er auch? Es wäre nicht anders gewesen, wenn Gordon … Beckys Stimme brach in ihre Gedanken ein.

»Weißt du, seit sie diese alten Knochen gefunden haben, ist das Leben in Lower Stovey tatsächlich ein wenig interessanter geworden.«

»Wirklich eine Schande, dass sie nichts anderes haben, worüber sie sich unterhalten könnten«, sagte sie in scharfem Ton. Sie waren unterdessen in Bamford, und Becky hakte das Thema um die Überreste aus Stovey Woods ab, wie die lokale Presse es nannte.

»Dort ist Michèle! Lass mich hier aussteigen, Mum. Ich gehe den Rest zu Fuß.« Linda spürte eine Woge der Erleichterung.

»Ich schätze, du hast noch genügend Zeit, und ich muss noch beim Supermarkt vorbei.« Sie lenkte an den Straßenrand und wartete, während ihre Tochter sich aus dem Wagen mühte, behindert durch ihre Schultasche und ihre Versuche, die Freundin auf sich aufmerksam zu machen. Als Becky schließlich auf dem Bürgersteig stand, wandte sie sich um, senkte den Kopf und fragte durch die offene Wagentür hindurch:

»Darf ich heute mit dem späteren Bus nach Hause kommen, Mum?«

»Nein, Becky, darfst du nicht.«

»Ach, Mum!«

»Ich hole dich an der Bushaltestelle ab, um Viertel nach vier, wie immer. Du wirst dort sein.« Die Tür fiel unter dem gemurmelten Protest ihrer Tochter ins Schloss. Linda fuhr weiter. Es gab keinen passenden Bus am Morgen, deswegen musste sie ihre Tochter zur Schule fahren. Doch es gab nachmittags einen Bus, den Becky um vier Uhr nehmen konnte und der unmittelbar vor der Kreuzung nach Lower Stovey hielt. Es war ein Segen, weil es bedeutete, dass Linda nicht ein zweites Mal am Tag nach Bamford fahren musste. Sie fuhr lediglich bis zur Haltestelle und sammelte ihre Tochter ein. Der Nachteil war, dass Becky nach der Schule keine Zeit hatte, die sie mit ihren Freundinnen verbringen konnte, es sei denn, sie stieg in den nächsten Bus, der volle zwei Stunden später ging. In letzter Zeit hatte sie immer häufiger den späteren Bus genommen, bis Kevin ein Machtwort gesprochen hatte.

»Sie ist ständig in der Stadt mit ihren albernen Freundinnen unterwegs. Sie haben nichts als Unsinn im Kopf, und wir wissen nichts davon! Außerdem sollte sie hier auf der Farm sein und dir beim Kochen des Abendessens helfen.« Normalerweise ließ sich Linda stets von dem Betteln ihrer Tochter erweichen. Doch Beckys Worte über den grausigen Fund in Stovey Woods hatten sie verärgert. Sie begann zu glauben, dass Kevin Recht hatte und Becky lieber nicht zu viel Zeit mit diesen hohlköpfigen Mädchen verbrachte, die sie Freundinnen nannte. Wenn es überhaupt Freundinnen waren und nicht Jungs. Eine kalte Faust umschloss Lindas Magengrube. Becky war dreizehn. Sie war hübsch. Wirf dein Leben nicht weg, Beck, Herrgott noch mal! Und vertrau den Männern nicht! Der Parkplatz vor dem Supermarkt war so früh am Tag halb leer. Im Laden unterhielten sich die Mädchen an der Kasse, während sie auf Kundschaft warteten. Linda nahm sich einen Einkaufswagen und schob ihn zur Brottheke, wo sie ein halbes Dutzend Laibe einlud, um die Kühltruhe aufzufüllen. Kevin nahm in letzter Zeit jeden Morgen Sandwiches mit nach draußen aufs Feld. In seiner Kindheit, als der alte Martin noch die Felder bestellt hatte, hatte Lindas längst verstorbene Schwiegermutter Tag für Tag mittags eine heiße Mahlzeit gekocht, außer zur Erntezeit. Es waren nicht nur der Zeitmangel und die Mühsal, die dazu geführt hatten, dass dieser Brauch untergegangen war. Es war Ökonomie. Wie dem auch sei, es erschien sinnvoller, abends zu essen, wenn Becky aus der Schule zurück war. Linda zögerte bei den Donuts, die im Sonderangebot

»Zwei zum Preis von einem« waren. Schließlich kaufte sie zwei, eine kleine Aufmerksamkeit für Kevin und seinen alten Vater, weil es ein gutes Angebot war. Sie selbst brauchte keinen. Auf dem Rückweg zu einer der Kassen kam sie an der Fleischtheke vorbei, nicht, weil sie Fleisch kaufen wollte, sondern um die Preise zu überprüfen. Sie nahm ein folienverschweißtes Stück nach dem anderen in die Hand und legte es seufzend wieder zurück. Zu denken, dass Kevin beinahe nichts bekam für den letzten Wurf Lämmer, und dann die Preise für die Lammkoteletts hier! Sie fühlte sich deprimiert, als sie nach Hause fuhr. Als sie durch Lower Stovey kam, sah sie eine bekannte Gestalt und hupte grüßend. Die Spaziergängerin blickte kurz auf und winkte.

»Ich frage mich, wohin sie will?«, sinnierte Linda – um die Begegnung beinahe sofort wieder zu vergessen.

An jenem Donnerstag fuhr Meredith noch einmal nach Lower Stovey. Die Wege des Schicksals waren wirklich eigenartig. Sie dachte häufig darüber nach. Nachdem sie beim letzten Mal mit Alan hier gewesen war, an jenem Tag, als der Wanderer die Knochen gefunden hatte, war sie innerlich fest entschlossen gewesen, niemals wieder einen Fuß in dieses Dorf zu setzen. Und doch war sie im Handumdrehen wieder hier.

Meredith lenkte den Wagen vor der Kirche in eine Parkbucht und stieg aus. Der Lärm der zuschlagenden Wagentür hallte durch die stille Umgebung und sandte ein paar Elstern unter protestierendem Flattern in die Luft, wo sie krächzende Kreise zogen. Es war ein windiger Tag. Die Elstern wurden immer wieder von Böen erfasst, und die Bäume auf dem Friedhof rauschten im Wind.

Meredith hatte fünfunddreißig Minuten Zeit bis zu ihrer Verabredung mit Mrs. Scott um zwölf Uhr mittags. Sie gedachte die Zeit damit zu verbringen, sich das Dorf genauer anzusehen. Selbst wenn sie – beim zweiten Hinschauen – zu dem Schluss kam, dass das Haus vielleicht doch infrage kam, so spielte es keine Rolle, wenn sie nicht in dieser Ortschaft leben konnte.

Meredith rammte die Hände in die Taschen ihrer FleeceWeste und schlenderte die Straße entlang, die vermutlich die Hauptstraße darstellte. Es gab keinerlei Anzeichen von Leben. Wo waren die Bewohner? Sie erreichte das Ende der Straße und kehrte um, dann bog sie in eine schmale Gasse ab, die als Church Lane ausgeschildert war. Sie war gesäumt von Cottages, hübsch gestrichen, doch offensichtlich genauso verlassen wie die Marie Celeste. Am Ende der Gasse stand ein großes, unregelmäßiges Gebäude, das aussah, als wären zwei oder sogar drei Cottages zusammengelegt worden. Ein Schild verriet Meredith den Namen: The Old Forge. Ruth Astons Haus also. Sie erinnerte sich an die von Ruth ausgesprochene Einladung und überlegte, ob sie anklopfen sollte. Aber vielleicht war es keine so gute Idee – falls sie anfingen, sich zu unterhalten, würde sie womöglich zu spät zu ihrer Verabredung kommen. Meredith kehrte zur Hauptstraße zurück und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ihre Wanderung durch Lower Stovey hatte lediglich fünf Minuten gedauert. Die Tür des Pubs mit Namen Fitzroy Arms stand weit offen. Bestimmt gab es dort einen Kaffee.

Meredith überquerte die Straße und betrat das Lokal. Ein Geruch nach schalem Bier, Zigarettenrauch und Toilettenreiniger schlug ihr entgegen. Trotzdem sah die Bar einigermaßen gemütlich aus. An den Wänden hingen Sportposter. Die Deckenbalken, die sich durch den gesamten Raum zogen, legten die Vermutung nahe, dass das Haus recht alt sein musste. Irgendjemand mit einer Vorliebe für Pferdegeschirre, hatte Dutzende davon an die Deckenbalken genagelt.

Meredith sah keine Gäste, doch eine Bewegung im hinteren Bereich des Lokals weckte ihre Aufmerksamkeit. Dort stand ein Mann mittleren Alters mit ovalem Kopf und dünnem, flach anliegendem Haar. Seine Haut sah weich aus, gerötet und beinahe unnormal sauber, als wäre sie irgendeinem chemischen Prozess unterworfen worden. Das Gesicht besaß fast keine Falten und wirkte, als könnte es weder die Lippen bewegen noch mit den Augen blinzeln. Als Meredith ein Kind gewesen war, hatte es jeden Sonntag zum Frühstück ein hart gekochtes Ei gegeben. Und immer, wenn sie mit ihrem Ei fertig gewesen war, hatte sie die Schale ihrem Vater gegeben, und er hatte sie im Eierbecher umgestülpt und ein lustiges Gesicht darauf gemalt. Jetzt hatte Meredith das Gefühl, als wäre eines der Eiergesichter ihres Vaters irgendwie zum Leben erwacht. Sie wusste nicht, ob der Mann schon bei ihrem Eintreten dort gestanden und sie ihn nicht bemerkt hatte oder ob er erst später gekommen war, angezogen von ihren Geräuschen. Er stand dort und beobachtete sie, reglos bis auf die Hände, die ein Tuch hielten und methodisch ein Glas polierten.

»Guten Morgen«, sagte Meredith zu dem Mann.

»Morgen«, antwortete er. Seine Stimme klang so weich, wie sein Gesicht aussah. Er unterbrach seine Arbeit nicht. Wahrscheinlich hätte er einen guten Totengräber abgegeben, dachte Meredith. Er war, so nahm sie an, der Wirt dieses Lokals.

»Servieren Sie auch Kaffee?«, fragte sie.

»Wird nicht oft verlangt, aber meine Frau kann Ihnen eine Tasse machen.« Er ging in ein Hinterzimmer, und sie hörte leises Stimmengemurmel. Dann kehrte er zurück.

»Dauert ein paar Minuten«, sagte er.

»Machen Sie es sich bequem.« Meredith setzte sich auf einen Hocker in der Nähe des kalten Kamins, in dem ein Stapel staubiger Holzscheite auf den Winter wartete. Der Wirt – zu ihrer großen Erleichterung stellte das polierte Glas ab. Er legte die Hände auf den Tresen und betrachtete sie auf die gleiche leidenschaftslose Weise wie von Anfang an. Es weckte Unbehagen in ihr, und sie hoffte, dass der Kaffee bald fertig war und sich die Frau des Wirts als eine lebendigere Person erweisen würde. Das Schweigen dauerte an und schien sich endlos zu dehnen. Endlich erklangen Schritte auf dem Fliesenboden, und eine kleine, geschäftige Frau erschien mit einen Tablett in den Händen. Sie eilte um den Tresen herum zu Meredith und stellte ihr das Tablett hin.

»Der Kaffee«, sagte sie freundlich.

»Milch und Zucker. Ich dachte, Sie mögen vielleicht ein paar Vollkornkekse.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke sehr«, sagte Meredith. Der Kopf der Frau war beinahe genauso vollkommen rund wie der ihres Mannes oval. Sie brachte ihr Gesicht nahe an das von Meredith und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie hatte kleine, helle Eichhörnchenaugen.

»Ich mag Vollkornkekse«, vertraute sie Meredith an, als wäre es ein Staatsgeheimnis.

»Man kann sie so schön tunken.« Mit diesen Worten zog sie sich zurück und verschwand, woher sie gekommen war. Meredith blieb mit dem Wirt allein zurück.

»Sie haben nicht besonders viel zu tun um diese Zeit, wie?«, fragte sie mit einer, wie ihr schien, abnorm lauten Stimme. Sie hatte nicht vorgehabt, so laut zu sein.

»Zwölf«, antwortete der Wirt und blinzelte endlich einmal.

»Sie kommen erst nach zwölf Uhr.« Von ihrem Platz aus betrachtet sah es aus, als hätte er keine Augenbrauen.

»Was hat Sie hergeführt, wenn ich fragen darf?« Er hatte bisher so wenig Neugier gezeigt, dass die Frage Meredith verblüffte. Sie öffnete den Mund zu einer Antwort, wollte sagen, dass sie nur auf der Durchfahrt wäre, doch dann fiel ihr rechtzeitig ein, dass niemand auf der Durchfahrt durch Lower Stovey war, weil die Straße hinter dem Dorf endete. Und was sie betraf, schien es das Ende der Welt zu sein.

»Ich sehe mir ein Haus an«, sagte sie vorsichtig. Er bewegte den Kopf merkwürdig seitwärts, wie ein Papagei, der etwas Neues untersucht.

»Hier in der Gegend ist meist das eine oder andere Haus zu verkaufen. Meinen Sie das alte Vikariat?«

»Ja. Es ist … es ist groß.« Das war eine dumme Antwort, dachte Meredith. Doch ihr wollte keine bessere einfallen, nicht für den Moment, nicht um alles in der Welt. Sie überdeckte ihre Konfusion mit einem Schluck Kaffee, der ziemlich schwach und ziemlich heiß war. Sie stellte die Tasse zurück und knabberte einen Vollkornkeks.

»Bei School Close ist auch eins zu verkaufen, eins von den kleinen Häusern.« Er zog missbilligend die Mundwinkel nach unten.

»Es ist winzig, wirklich. Man hätte verbieten müssen, so viele Häuser auf so ein kleines Grundstück zu bauen! Früher war dort die Schule, wissen Sie?«

»Sie sind ein Einheimischer, schätze ich?« Sein Blick glitt zur Seite.

»Sozusagen«, antwortete er ausweichend. Was auch immer das bedeuten mochte, dachte Meredith verärgert. Sie hatte allmählich genug von diesem Wirt. Falls sie und Alan sich tatsächlich dazu durchringen sollten, das alte Vikariat zu kaufen – und die Vorstellung erschien ihr von Minute zu Minute weniger attraktiv –, würden sie ganz sicher nicht im Fitzroy Arms verkehren, nicht, wenn es nach ihr ging. Alan hatte eine Schwäche für schrille Pubs. Er würde es hier drin wahrscheinlich lieben, mitsamt dem eigenartigen Wirt. Der eigenartige Wirt sprach erneut und brachte sie einmal mehr aus der Fassung.

»Meine Mutter war eine Twelvetrees«, sagte er.

»Aber das sagt Ihnen wahrscheinlich nichts.«

»Doch, es sagt mir etwas!« Sie empfand großes Vergnügen, ihm zu widersprechen. Sie sah, wie sich die weiche Haut über seinen Augen leicht in die Höhe schob. Augenbrauen besaß er keine nennenswerten.

»Als ich das letzte Mal hier war, bin ich in der Kirche einem alten Gentleman namens Billy Twelvetrees begegnet.« Er nickte.

»Das ist Onkel Billy. Er besucht ständig die Kirche, wenn sie nicht abgesperrt ist, heißt das. Nicht, dass er religiös wäre, o nein. Er mag es, sich mit den Ladys zu unterhalten, die das Gotteshaus sauber machen, Mrs. Aston und ihrer Freundin, Miss Millar. Er hat ja sonst nicht viel zu tun, nicht wahr, in seinem Alter? Mrs. Aston war früher Miss Pattinson, bevor sie geheiratet hat. Sie war die Tochter des alten Vikars.«

»Ich bin Mrs. Aston bereits begegnet«, informierte Meredith den Wirt.

»Scheint so, als hätten Sie schon eine ganze Menge über uns rausgefunden, wie?«, sagte er. Sie hatte das Gefühl, dass ihn diese Tatsache ärgerte. Gut. Er hatte sie ebenfalls geärgert. Damit war die Rechnung ausgeglichen, und Meredith verspürte keine Lust, länger im Pub zu bleiben. Man soll gehen, solange man vorn liegt.

»Danke sehr für den Kaffee«, sagte sie.

»Was bin ich Ihnen schuldig?« Er zuckte die Schultern.

»Keine Ahnung. Fünfzig Pence, einverstanden?« Meredith legte eine Pfundmünze auf den dunklen Eichentresen.

»Es erscheint wohl kaum genug, wenn man bedenkt, dass Ihre Frau den Kaffee extra kochen musste und mir obendrein Vollkornkekse gebracht hat. Der Rest ist für Sie, danke sehr.« Er starrte auf die Münze hinunter.

»Wie Sie meinen«, sagte er.

»Ihre Entscheidung.« Sie verließ das Pub in beinahe unschicklicher Hast. Draußen stellte sie überrascht fest, dass es immer noch zehn Minuten bis zwölf Uhr waren. Was hatte es auf sich mit diesem Lower Stovey, dass die Zeit nicht zu vergehen schien?

»Richtig unheimlich!«, murmelte sie. Sie hob den Blick und betrachtete die Kirche auf der anderen Straßenseite. Sie musste wenigstens noch fünf Minuten totschlagen, bevor sie beim Old Vicarage läuten konnte. Einem Impuls folgend, beschloss Meredith, noch einmal in die Kirche zu gehen. Vielleicht war Ruth Aston ja dort. Sie überquerte die Straße und stieß das Friedhofstor auf. Als sie das Holzdach passierte, bemerkte sie in einiger Entfernung eine breite Gestalt, die zwischen den verwilderten Gräbern und den schiefen Grabsteinen hindurch davonhuschte. Sie hatte einen Stock und humpelte, doch sie bewegte sich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit. Meredith durchquerte den Kirchhof und betrat den Vorbau. Sie öffnete eine Tür aus Kaninchendraht in einem selbstgebauten Holzrahmen mit einem Schild

»Bitte diese Tür ständig geschlossen halten, damit keine Vögel in die Kirche fliegen, wo sie verdursten würden«. Das Innere der Kirche war dunkel mit Ausnahme des Teils, an dem die Kanzel stand, wo Sonnenlicht durch die bunten viktorianischen Bleiglasfenster fiel und das Chorgestühl in helle Farben tauchte. Es war kühl und still, bis auf ein paar scharrende Geräusche hoch über Meredith, wo Elstern auf dem Dach umherspazierten. Langsam gewöhnten sich Merediths Augen an die Dämmerung, während sie nach dem Fitzroy-Denkmal suchte. Dort war es. Sie ging zu der Stelle. Hier lag Sir Hubert, die steinernen Gesichtszüge verstümmelt, sodass sie kaum noch menschlich wirkten. Neben ihm lag auf alle Ewigkeit die Ehefrau, die er im Leben nicht an seiner Seite gewollt hatte. Ihr Gesicht mit der kunstvollen Haubenfrisur blickte ernst. Sie hatte die langen schmalen Hände vor der Brust zum Gebet gefaltet. Irgendjemand hatte ihr ein gebrauchtes Kaugummi an den rechten Ärmel geklebt. Meredith wünschte, ihr Latein wäre gut genug, um die Inschrift entlang der Basis zu entziffern. Doch Mangel an Bildung und das, was nach weiterer mutwilliger Beschädigung aussah, bedeuteten, dass sie außer

»Hubertus« und

»Agnes uxor sua« nichts entziffern konnte. Selbst die Todesjahre waren ausgelöscht worden. Meredith wandte sich ab, und nachdem sich ihre Augen endlich an das Zwielicht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Eine Frau kniete im Gebet auf einer Kirchenbank auf der anderen Seite des Mittelgangs, unter der Gedenktafel, die an den Perücken tragenden Sir Rufus erinnerte. Sie hatte den Kopf nach vorn geneigt, und ihre Stirn ruhte auf einem Stapel von Gebetbüchern, der auf der pultartig verbreiterten Rückenlehne der Bank vor ihr lag. Meredith spürte, wie Verlegenheit in ihr aufstieg, weil sie ein so privates Gebet gestört hatte, und begann, auf Zehenspitzen nach draußen zu schleichen. Doch an der Tür zögerte sie und warf einen Blick zurück. Die Frau war so still. Irgendetwas an ihrer Haltung stimmte nicht. Sie hatte die Hände nicht zum Gebet gefaltet; stattdessen baumelten sie schlaff zu beiden Seiten herab. Merediths Nackenhaare richteten sich auf. Hastig wandte sie sich um und ging auf die kauernde Gestalt zu. Sie regte sich immer noch nicht. Dort angekommen, fragte Meredith:

»Ist alles in Ordnung? Fühlen Sie sich nicht wohl?« Keine Regung. Keine Antwort. Die Gestalt rührte sich nicht. Meredith konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur das dicke, ergrauende Haar. Vorsichtig streckte Meredith die Hand nach der Frau aus und berührte sie an der Schulter. Sie spürte etwas Warmes, Klebriges an den Fingern. Erschrocken zog sie die Hand zurück und starrte auf rotes Blut. Meredith beugte sich vor, um das verborgene Gesicht zu sehen, und begegnete dem Blick aus einem glasigen Auge unter einem in halb offener Stellung erstarrten Lid. Übelkeit stieg in Meredith auf, und sie erhob sich hastig. Die Frau hatte einen Schal mit Geranienmuster um den Hals, doch nicht alles Rot stammte von den Geranien. Das seidige Gewebe hatte einen Riss. Blut war in den Schal gesickert und von dort aus in den leichten Pullover. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie tot war.

KAPITEL 6

ES WAR NICHT das erste Mal, dass Meredith eine Leiche zu Gesicht bekam. Es war nicht einmal das erste Mal, dass sie das Unglück hatte, über ein Opfer eines gewaltsamen Angriffs zu stolpern. Doch dies machte die Erfahrung weder weniger grausam noch weniger schockierend. In gewisser Hinsicht verstärkte es das Entsetzen sogar eher. Irgendjemand anders mochte vielleicht annehmen, dass die Frau nicht tot war. Meredith wusste, dass das Gegenteil zutraf. Andere mochten sich einreden, dass die Frau irgendeinen bizarren Unfall erlitten hatte. Meredith wusste, dass sie auf ein Mordopfer blickte. Und doch war Unglaube in ihren Reaktionen. Nicht Unglaube angesichts der Realität vor ihren Augen, sondern darüber, dass das launische Schicksal wieder einmal sie ausgesucht hatte, all das erneut durchzumachen. Zumindest, dachte sie, weiß ich, wie ich mich verhalten muss. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass der Mörder vielleicht immer noch in der Kirche war, dass er sich irgendwo hinter einer der Bänke oder hinter der riesigen viktorianischen Orgel mit ihrem Wald staubiger Pfeifen versteckte. Oder hinter jenem verblassten Brokatvorhang über dem Torbogen, der in die Sakristei führte. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz in der Brust, als sie die Ohren spitzte und nach dem Geräusch des Atmens einer anderen Person lauschte, dem verräterischen Knarren von Holz, während ihre Augen auf die leiseste Bewegung des Vorhangs achteten. Nichts. Sie war allein mit der Toten. Sir Rufus starrte höhnisch auf sie herab, als wollte er sagen, dass so etwas in seiner Zeit niemals zugelassen worden wäre. Sie ging nach draußen, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und rief Alan an. Sie kämpfte darum, ihrer Stimme einen ruhigen, gelassenen Tonfall zu verleihen, und wusste doch, dass sie nicht so klang, sondern abgehackt und unnatürlich schrill. Alan nahm die Neuigkeit gelassen auf. Er war ein Profi. Er hatte all das schon mehr als einmal durchgemacht, und es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass es wieder einmal so weit war. Dazu, so pflegte er hin und wieder ironisch zu sagen, war er schließlich da. Doch sie spürte einen Anflug von Wärme und Zuneigung, als sie seine klaren, tröstenden und zugleich instruierenden Worte vernahm. Warte dort, bei der Tür. Lass niemanden sonst in die Kirche. Wenn jemand darauf beharrt, geh mit ihm und sorge dafür, dass er nichts wegnimmt oder anfasst. Als Alan aufgelegt hatte, fiel Meredith ihre Verabredung mit Mrs. Scott ein, die nun vergeblich in Old Vicarage auf sie warten würde. Sie rief an, erklärte, dass es einen Notfall gegeben hätte und sie sich verspäten würde. Vielleicht schaffte sie es an diesem Tag überhaupt nicht mehr.

»Was denn, einen Notfall hier im Dorf?«, erkundigte sich Mrs. Scott hellhörig.

»Wurde irgendjemand verletzt?« Meredith war verblüfft. Woher wusste die Frau, wo sie war? Andererseits hatte sie Meredith bereits erwartet, in Lower Stovey. Sie war durch das gesamte Dorf spaziert, und sie war zwar niemandem begegnet, doch das bedeutete noch lange nicht, dass niemand sie gesehen hatte.

»Sozusagen«, antwortete sie ausweichend wie vorhin der Wirt vom Fitzroy Arms.

»Wo sind Sie jetzt?«, fragte Mrs. Scott mit einer Stimme, die keine Ausrede duldete. Schwach antwortete Meredith, dass sie vor der Kirche stand.

»Ruth Aston ist von dieser verdammten Leiter gestürzt, habe ich Recht? Es würde mich nicht überraschen.«

»Nein, das ist es nicht. Es hat nichts mit ihr zu tun.«

»Hm«, sagte Mrs. Scott und warf den Hörer auf die Gabel. Wenige Minuten später stand sie leibhaftig vor Meredith. Sie kam durch das Tor und über den Kirchhof gestürmt wie ein Racheengel, gekleidet in einen Strickpullover und einen schlaff herabhängenden Rock, die langen grauen Haare vom Wind zerzaust.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie schroff.

»Ich darf Sie nicht hineinlassen.« Meredith versperrte den Zugang, indem sie die Arme ausbreitete.

»Die Polizei hat gesagt, ich soll niemanden in die Kirche lassen. Ich warte auf ihr Eintreffen.«

»Polizei?« Mrs. Scott hob verblüfft eine Augenbraue.

»Keine Sanitäter?«

»Die Polizei bringt einen Arzt mit.« Mrs. Scott stemmte die Arme in die breiten Hüften.

»Also ist jemand gestorben, wie?«, erkundigte sie sich ein wenig ungehalten.

»Wer?«

»Ja, jemand ist gestorben.« Für Meredith war es eine Erleichterung, die Wahrheit zu gestehen.

»Ich weiß nicht, wer es ist.«

»Ich sehe mir das besser an«, sagte Mrs. Scott und rückte so entschlossen gegen Meredith vor wie ein Panzer.

»Und erzählen Sie mir nichts von wegen der Cops und dass niemand in die Kirche darf. Natürlich wissen Sie nicht, wer der Tote ist. Aber ich weiß es wahrscheinlich, das heißt, wenn es sich um einen Einheimischen handelt.« Damit hatte sie Recht, und der Polizei konnte es nicht ungelegen kommen, so bald wie möglich zu erfahren, um wen es sich bei dem Opfer handelte. Meredith verspürte zwar kein Verlangen, zum Ort des Geschehens zurückzukehren, doch sie willigte zögernd ein.

»Ich muss mit Ihnen kommen«, sagte sie.

»Keine Frage«, antwortete ihre Begleiterin.

»Sie müssen dafür sorgen, dass ich nicht überall meine Fingerabdrücke hinterlasse oder Beweise einstecke, richtig?« Meredith wurde klar, dass Mrs. Scott wahrscheinlich ein Fan von Kriminalromanen war. Sie hatte viele Jahre Krimis gelesen, und jetzt hatte sich zu ihrer großen Freude ein Verbrechen direkt vor ihrer Haustür ereignet.

»Es ist nicht wie in den Büchern«, sagte Meredith entschieden.

»Das sage ich doch gar nicht. Nun kommen Sie schon!« Sie betraten den kühlen, düsteren Innenraum. Die zusammengesunkene Gestalt kauerte genauso dort, wie Meredith sie verlassen hatte. Sie näherten sich schweigend und so leise, wie sie konnten, als könnte das Geräusch ihrer Schritte die Tote aufschrecken. Als sie bei ihr angekommen waren, stieß Mrs. Scott ein Ächzen aus. Meredith blickte sie an. Die gesunde Gesichtsfarbe von Mrs. Scott war einem hellen Grau gewichen. Meredith verspürte einen unwürdigen Wunsch,

»Ich hab’s doch gleich gesagt« zu sagen. Stattdessen bemerkte sie, obwohl es auf das Gleiche hinauslief:

»Ich habe Sie gewarnt, es ist kein schöner Anblick.« Mrs. Scott machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Ich hab schon früher unschöne Anblicke gesehen. Das ist es nicht. Es ist nur niemand, mit dem ich gerechnet hätte.«

»Dann kennen Sie die Tote nicht?«

»Selbstverständlich kenne ich sie!«, stieß Mrs. Aston hervor und riss sich sogleich wieder zusammen.

»Es ist Hester Millar, die bei Ruth Aston im Haus lebt. Was für eine verdammte Sauerei! Wer sollte Hester töten wollen? Wegen was um alles in der Welt? Sie war absolut harmlos! Wo ist ihre Handtasche?«

»Ihre Handtasche?«, fragte Meredith begriffsstutzig, bevor ihr der Sinn der Frage klar wurde. Mrs. Scott deutete auf eine verschrammte braune Ledertasche, die neben den Füßen der Toten am Boden lag.

»Da ist sie ja. Sieht nicht so aus, als wäre sie geöffnet worden. Hester hätte sowieso kein Geld dabeigehabt. Diese ganze Sache ergibt keinen Sinn! Es muss ein Verrückter gewesen sein, wer auch immer es war!« Sie blinzelte Meredith aus zusammengekniffenen Augen an.

»Sie haben niemanden gesehen, schätze ich?«

»Ich … nein, nicht in der Kirche.«

»Er könnte immer noch hier irgendwo sein und sich verstecken. Waren Sie bei der Turmtür? Haben Sie probiert, ob sie verschlossen ist?« Zu Merediths Bestürzung setzte sie sich sogleich in Richtung einer schmalen Tür weiter hinten in Bewegung. Meredith packte ihren Arm.

»Wir fassen nichts an! Es wäre sowieso total dumm, dort hinaufzugehen! Wenn sich derjenige, der das hier getan hat, noch irgendwo in der Kirche versteckt, dann wird er kurzen Prozess mit Ihnen oder mir machen, glauben Sie mir! Bevor wir in die Kirche gegangen sind, haben Sie gesagt, Sie wüssten Bescheid von wegen Fingerabdrücken und so weiter. Wenn wir noch länger hier bleiben, verwischen wir die Spuren am Tatort. Wir sollten so schnell wie möglich nach draußen zurückkehren. Die Polizei ist jeden Moment da, und sie wird sicher verärgert reagieren, wenn sie uns hier drin antrifft.« Mrs. Scott ließ sich eher widerwillig nach draußen unter das Vordach führen. Dort wandte sie sich mit ihrer früheren herrischen Art an Meredith.

»Jemand muss zu Ruth und ihr die Nachricht überbringen. Es wird ein schlimmer Schlag werden für sie. Sie waren ihr ganzes Leben lang Freundinnen, seit der Universität.«

»Das soll die Polizei machen.«

»Unsinn! Wollen Sie vielleicht, dass einer von diesen Kerlen in Ruths Zuhause stapft und ihr an den Kopf knallt, dass die arme Hester ein Messer in den Hals bekommen hat?«

»Wenn es so gewesen ist«, wandte Meredith ein.

»Sie haben das Blut gesehen«, sagte Mrs. Scott störrisch.

»Sie haben das Loch im Schal gesehen. Ich wette, dass es ein Messer gewesen ist, warten Sie’s ab.« Sie fasste sich mit der Hand an den Hals.

»Halsschlagader«, sagte sie.

»Ich wette meine Stiefel darauf. Haben Sie gesehen, wie viel Blut aus der Wunde gelaufen ist?« Sie schürzte die Lippen.

»Wenn erst die Polizei auftaucht, steht das ganze Dorf vor der Kirche, um zu sehen, was los ist. Jemand wird es Ruth erzählen. Sie wird voller Panik hier angelaufen kommen und erfahren, dass die Tote Hester ist. Es ist mir egal, was Sie oder die blöden Bullen denken. Ich gehe jetzt zu ihr in die Church Lane und sage es ihr.« Und mit diesen Worten machte sie kehrt und stapfte davon. Meredith starrte ihr deprimiert hinterher. Mrs. Scott hatte vermutlich Recht. Sobald der offizielle Zirkus am Horizont auftauchte, würden diese dem äußeren Anschein nach verlassenen Cottages eine Menge neugieriger Bewohner ausspeien. Und wo sie gerade bei neugierig war … Merediths Blick ging über die Front der Cottages, die das Pub flankierten. In welchem dieser Häuser wohnte Billy Twelvetrees, und wo steckte der alte Mann? Die Ankunft des ersten Einsatzwagens der Polizei bereitete ihren Überlegungen ein Ende. Kurz darauf trafen der Polizeiarzt und die Spurensicherung ein, gefolgt von der Regional Serious Crimes Squad in der vertrauten Gestalt von Inspector Dave Pearce und dahinter ein weiteres bekanntes Gesicht, das von Ginny Holding.

»Hallo!«, wurde Meredith von Pearce begrüßt.

»Der Chef hat gesagt, dass Sie hier wären.«

»Ich habe die Tote gefunden«, sagte Meredith tonlos.

»Und ich weiß auch schon, wer es ist.«

»Oh, richtig.« Er sah sie überrascht an.

»Jemand, den Sie kennen?« Meredith schüttelte den Kopf und erklärte:

»Ich konnte nicht verhindern, dass Mrs. Scott losgerannt ist, um Mrs. Ruth Aston davon zu erzählen. Mrs. Aston war die Hausgenossin der Toten.«

»In einem so kleinen Ort wie diesem hier ist es überhaupt nicht zu vermeiden, dass Mrs. Aston davon erfährt, bevor wir mit ihr gesprochen haben«, sagte Pearce.

»Wir werden eine Aussage von Ihnen aufnehmen müssen, dazu von dieser Mrs. Scott und Mrs. Aston.« Er ging zur Kirche, und Meredith wandte sich ab, um Ginny Holding zu begrüßen.

»Hallo, Detective Constable.«

»Hallo, Miss Meredith«, erwiderte Ginny liebenswürdig.

»Ich bin zum Sergeant befördert worden, seit wir uns das letzte Mal begegnet sind.«

»Oh, Entschuldigung, das wusste ich nicht. Herzlichen Glückwunsch nachträglich.« Ginny Holding zuckte die Schultern.

»Warum sollten Sie es auch wissen? Gibt keinen Grund dafür.« Sie senkte die Stimme und fragte:

»Kennen Sie dieses Dorf gut?«

»Nein!«, entgegnete Meredith.

»Und ehrlich gesagt, ich will es verdammt noch mal auch gar nicht genauer kennen lernen!« Sie war überrascht von der Vehemenz ihrer eigenen Antwort, und sie hatte Ginny Holding beeindruckt, so viel stand fest. Sergeant Holding hob fragend die Augenbrauen.

»Ist es so schlimm?« Ein blauweißes polizeiliches Absperrband war wie durch Magie quer über dem Tor zum Kirchhof erschienen, und nicht einen Augenblick zu früh. Der Wirt und seine Frau waren aus dem Fitzroy Arms nach draußen gekommen, während Meredith mit Ginny Holding gesprochen hatte. Sie standen, er reglos, sie auf und ab hüpfend vor Aufregung, vor ihrem Pub und beobachteten die Aktivitäten ringsum. Aus allen Richtungen strömten andere Dorfbewohner herbei, doch Meredith entdeckte nirgendwo die massige Gestalt von Old Billy Twelvetrees darunter. Plötzlich drehten sich alle Köpfe, und die kleine Menge teilte sich. Ruth Aston, gefolgt von Mrs. Scott, kam aus der Einmündung der Church Lane gerannt. Sie durchquerte das Tor zum Kirchhof, brach durch das neu gespannte Band, wich dem jungen Constable aus, der ihr den Weg abschneiden wollte, und traf atemlos vor Meredith und Ginny Holding ein.

»Wo ist sie?«, fragte sie Meredith.

»Wo ist Hester?«

»In der Kirche, Ruth, aber ich glaube nicht, dass Sie jetzt reinkönnen …« Sie sah Ginny Holding an und murmelte:

»Das ist Ruth Aston, die mit … mit der Toten zusammengewohnt hat. Und das hier ist Mrs. Scott, die Frau, von der ich Ihnen und Inspector Pearce erzählt habe.«

»Ich will Hester sehen!«, rief Ruth mit lauter werdender Stimme. Aus der Menschenmenge erhob sich unterstützendes Gemurmel.

»Schon gut, schon gut, in Ordnung«, versuchte Ginny Holding die aufgeregte Frau zu besänftigen. Ruths schrille Stimme hatte Pearce angezogen, der aus dem Kirchenvorbau trat und sich unklugerweise in die Unterhaltung einmischte.

»Alles zu seiner Zeit, gute Frau.«

»Wagen Sie es nicht, so mit mir zu reden!«, Ruth zeigte mit bebendem Zeigefinger auf ihn.

»Ich will meine Freundin sehen, auf der Stelle! Muriel Scott sagt, sie liegt tot in der Kirche. Das kann nicht sein!«

»Ich fürchte doch, Ruth«, sagte Mrs. Scott hinter ihr.

»Ich hab sie selbst gesehen. Und sie liegt nicht am Boden, sondern auf eine Kirchenbank gestützt unter dem Denkmal vom alten Rufus.«

»Danke sehr, Ma’am, das reicht jetzt«, sagte Pearce laut und unterbrach den Informationsfluss, der von der eifrig lauschenden Menge begierig aufgesaugt wurde. Er blickte sich gehetzt um und legte die Finger an den Unterkiefer, während er die Pros und Kontras einer hysterischen Szene vor einem aufmerksamen Publikum gegen eine zusätzliche, fremde Person am Tatort abwog.

»Sie dürfen bis zur Tür gehen, Mrs. Aston, nicht weiter«, sagte er schließlich.

»Und Sie dürfen nichts anfassen, sind Sie damit einverstanden?«, räumte er schließlich ein.

»Ich will nichts anfassen, ich will Hester sehen!« Ruths Stimme klang klagend wie die eines kleinen Kindes.

»Sie wird zusammenbrechen«, murmelte Meredith leise an Pearce gewandt. Vielleicht hatte Ruth ihre Worte gehört, denn sie unternahm einen sichtlichen Versuch, sich zusammenzureißen.

»Ich bin Kirchenvorsteherin dieser Gemeinde«, sagte sie würdevoll.

»Genau wie Hester. Wir kümmern uns um diese Kirche und den Inhalt. Wenn irgendetwas mit dem Besitz passiert, dann muss ich es Pater Holland in Bamford berichten und danach wahrscheinlich auch noch dem Bischof.« In Pearce stiegen düstere Visionen von einer Bande wütender Kirchenmänner auf. Noch unglücklicher als zuvor nickte er zögernd.

»Ich bringe Sie hin. Sie können Ihre Freundin ansehen, aber dann gehen wir sofort wieder nach draußen, einverstanden? Ich fürchte, Sie dürfen Ihre Freundin unter keinen Umständen berühren.« Pearce führte die aufgelöste Ruth Aston ins Innere der Kirche, und Meredith und Muriel Scott schlüpften hinter ihnen her, bevor Ginny Holding merkte, was sie im Schilde führten. Ruth eilte auf die Bank unter dem Bildnis von Sir Rufus Fitzroy zu.

»Hester?«, rief sie.

»Hester?« Es war, als hoffte sie immer noch, dass alles nur ein Irrtum war und dass sie nun, da sie eingetroffen war, die traurige, zusammengesunkene Gestalt wecken konnte. Pearce eilte nervös hinter ihr her und fasste sie beim Arm.

»Bitte, bewegen Sie sich langsam.« Doch Ruth war bereits stehen geblieben. Sie starrte auf den Leichnam ihrer Freundin hinunter und wiederholte einmal leise

»Hester?«, dann sank sie in die Knie. Pearce fing sie gerade noch auf. Meredith und Muriel Scott stürzten herbei. Mrs. Scott übernahm das Kommando.

»Hören Sie«, sagte sie zu Inspector Pearce,

»ich wusste, dass es so weit kommen würde. Ich wohne direkt nebenan, im Old Vicarage. Sie können das Haus vom Vorbau aus sehen. Ich werde Ruth dorthin bringen – Meredith hier wird mir dabei helfen –, und ich werde ihr eine gute, starke Tasse Tee mit einem Schuss Whisky oder sonst was machen. Haben Sie verstanden?«

»Äh … ja«, sagte Pearce resigniert.

»Wenn Sie ein Protokoll oder irgendwas in der Art brauchen, wissen Sie ja, wo Sie uns finden. Machen Sie sich keine Gedanken, wir laufen nicht weg.«

»Äh … nein«, sagte Pearce. Die beiden Frauen nahmen Ruth Aston in die Mitte und stützten sie auf dem Rückweg nach draußen. Aus der Menschenmenge erhob sich mitfühlendes Gemurmel, als alle drei vor der Kirche auftauchten. Ginny Holding gab dem Officer beim Friedhofstor ein Zeichen. Der Constable hob das Absperrband und ließ sie passieren. Die Dorfbewohner teilten sich schweigend. Irgendwie erreichten Meredith und Mrs. Scott mit der stolpernden Ruth zwischen sich das alte Vikariat. An der Tür blieb Mrs. Scott stehen und sah Meredith an.

»Sie müssen die nächsten paar Minuten allein hier aushalten, fürchte ich. Ich muss Roger erst auf der Toilette einsperren. Wenn er Ruth anspringt, während sie so unsicher auf den Beinen ist, fällt sie ganz sicher um.« Sie sperrte die Haustür auf und drückte sich durch die Tür ins Innere, um den Exodus von Roger zu verhindern, der laut winselte und über Tisch und Stühle zu springen schien vor Freude über ihre Heimkehr. Zu seinem Kummer wurde seine Begeisterung mit erneuter Einkerkerung in der Toilette belohnt, aus der bald darauf ein trübsinniges Heulen ertönte. Muriel Scott erschien atemlos in der Tür.

»So, alles in Ordnung. Kommen Sie rein.« Ruth unternahm einen Versuch, sich zusammenzureißen.

»Es tut mir Leid …«, murmelte sie.

»Es tut mir so furchtbar Leid …«

»Schluss damit!«, unterbrach Muriel sie freundlich, aber bestimmt.

»Los, wir gehen jetzt erst mal ins Haus.« Sie ließen Ruth auf das alte Sofa im Wohnzimmer gleiten. Muriel Scott kramte in einem Schrank und brachte eine halbe Flasche Whisky zum Vorschein, zusammen mit einigen Gläsern. Sie stellte alles auf einen kleinen Wohnzimmertisch und befahl Meredith:

»Kümmern Sie sich darum!«, bevor sie in Richtung der Küche verschwand. Als sie die Tür zur Toilette passierte, kratzte Roger so heftig an der Tür, dass sie in den Angeln klapperte. Meredith fragte sich, wie stabil das Schloss sein mochte. Sie schenkte drei Scotch ein und reichte Ruth ein Glas.

»Ich mag keinen Alkohol«, protestierte Ruth schwach.

»Betrachten Sie es als Medizin.« Ruth nahm gehorsam das Glas entgegen, nippte daran und verzog das Gesicht. Meredith nahm selbst einen etwas großzügigeren Schluck und war dankbar für den brennenden Schmerz in der Kehle und das wärmende Gefühl, das sich in ihrer Magengegend ausbreitete. Sie setzte sich neben Ruth auf das Sofa und überlegte, dass es wahrscheinlich besser war, die Frau vorzuwarnen, was als Nächstes auf sie zukommen würde.

»Die Polizei wird bald herkommen und möchte Dinge in Erfahrung bringen. Sie wird Fragen über jedes nur vorstellbare Detail stellen. Einiges davon wird furchtbar persönlich sein. Bei einer Morduntersuchung gibt es keine Privatsphäre, fürchte ich.«

»Sie wissen Bescheid über diese Dinge?« Ruth gelang ein schiefes Grinsen.

»Aber natürlich, Sie sind ja mit einem Polizisten befreundet. Mr. Markby, nicht wahr? Wird er ebenfalls kommen?«

»Ich hoffe doch«, sagte Meredith zu ihr. Sie sehnte sich nach Alan, danach, dass er bei ihr war und das Kommando über all diese Dinge übernahm. Der Fairness halber fügte sie hinzu:

»Ich kenne Inspector Pearce ebenfalls seit einer Reihe von Jahren. Er ist der Beamte, der Sie in die Kirche gebracht hat, und er ist ein sehr fähiger Polizist.« Roger fing hysterisch an zu bellen, was bedeutete, dass er seine Herrin gehört hatte, die an seiner Tür vorbei ins Wohnzimmer zurückkehrte. Muriel Scott trug ein Tablett mit dampfenden Bechern in den Raum.

»Das wird dich wieder aufrichten«, sagte sie zu Ruth.

»Ist dir kalt? Soll ich das Feuer anmachen?«

»Mir ist ein wenig kalt, ja«, gestand Ruth.

»Das ist der Schock. Warte.« Sie bückte sich und schaltete das Gasfeuer im Kamin ein.

»Gleich geht es dir wieder besser, du wirst sehen.«

»Bestimmt nicht, das glaube ich nicht«, widersprach Ruth.

»Jedenfalls nicht gleich. Nicht in Tagen, nicht in Wochen, nicht in Monaten. Ich weiß überhaupt nicht, was ich ohne Hester anfangen soll. Sicher, ich komme zurecht, ich kriege alles geregelt, keine Frage. Aber es wird so verdammt hart. Nicht nur die Einsamkeit, sondern das Wissen, auf welche Weise sie gestorben ist.« Sie schüttelte befremdet den Kopf.

»Ich begreife das einfach nicht! Jemand hat Hester ermordet! Wer? Warum? Das ist doch nicht möglich! Niemand in Lower Stovey würde jemandem so etwas Furchtbares antun! Weder Hester noch irgendjemand anderem!«

»Tatsächlich nicht?«, fragte Mrs. Scott unerwartet.

»Was ist mit diesen Knochen, die vor ein paar Tagen in Stovey Woods gefunden wurden?« Ruth legte die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

»Herrgott noch mal!«, stieß Meredith an ihre Gastgeberin gewandt hervor.

»Müssen wir jetzt wirklich darüber reden?« Mrs. Scott war uneinsichtig.

»Die Polizei wird sicher Fragen stellen.«

»Warum sollte sie? Diese Knochen sind wahrscheinlich steinalt. Alan hat es mir selbst gesagt. Sie können unmöglich irgendwas mit dieser Sache zu tun haben!« Was auch immer Muriel Scott als Antwort auf den Lippen gehabt haben mochte, es ging in einem bellenden und kratzenden Crescendo aus dem Flur unter. Die Tür zur Toilette erzitterte.

»Jemand kommt her«, sagte Mrs. Scott. Sie ging nach draußen, und Meredith hörte, wie sie die Haustür öffnete.

»Oh, Sie sind es«, sagte Mrs. Scott.

»Ich dachte mir schon, dass Sie auftauchen würden. Kommen Sie doch herein.« Eine große, vertraute Gestalt in einer zerknitterten grünen Barbourjacke füllte den Eingang zum Wohnzimmer aus.

»Oh, Alan!«, rief Meredith erleichtert.

»Gott sei Dank, dass du da bist!«

»Fühlen Sie sich im Stande, über Ihre Freundin zu sprechen?«, fragte Alan mitfühlend an Ruth Aston gewandt. Sie hatten einige Zeit mit höflichen Unterhaltungen verbracht, gemeinsam Tee und Whisky getrunken und Trost und Mitgefühl ausgesprochen. Jetzt beugte sich Alan, der auf einem Lehnsessel den Frauen gegenübersaß, mit locker verschränkten Händen im Schoß vor.

»Wir waren seit unserer Jugend Freundinnen, seit der Studentenzeit«, antwortete Ruth einfach.

»Wie lange haben Sie zusammengewohnt?«

»Ach, das.« Ruth ließ die Schultern hängen.

»Noch nicht so sehr lang. Ungefähr drei Jahre, nein, fast vier. Es war, nachdem mein Ehemann starb. Ich habe erst ziemlich spät geheiratet«, fügte sie hinzu. Markbys Blick streifte Meredith, und er bemerkte, wie sie den Kopf abwandte. Ruth redete immer noch.

»Mein toter Mann war ein lieber Mensch. Er mochte Überraschungen. Sie wissen schon … er liebte es herauszufinden, was die Leute mochten, und ihnen dann passende Geschenke zu machen oder kleine Freuden zu bereiten. Ich hab immer wieder gesagt, er wäre ein richtiger Weihnachtsmann. Er war tatsächlich ein wenig so. Unglaublich gutmütig, nur manchmal begriff er etwas nicht. Beispielsweise The Old Forge. Er wusste, dass ich in Lower Stovey aufgewachsen bin und dass mein Vater der Vikar in diesem Dorf war. Als er herausfand, dass The Old Forge zum Verkauf stand, ging er hin und kaufte es, ohne ein Wort zu mir zu sagen. Er dachte, ich würde mich freuen, hierher zurückzukehren und wieder hier zu leben. Aber das war ein Irrtum. Ich wollte nie wieder zurück nach Lower Stovey. Doch das konnte ich ihm nicht sagen. Er war so froh darüber, dass er The Old Forge gekauft hatte, so zuversichtlich, dass ich mich genauso freuen würde wie er.« Ruth ließ erneut die Schultern hängen.

»Das ist also der Grund, aus dem wir nach Lower Stovey zurückgekommen sind. Und dann ist er gestorben, Hester kam zu mir zu Besuch, um mich über die erste Zeit zu trösten. Sie ist nie wieder weggegangen.«

»War Miss Millar denn nicht verheiratet? Früher einmal?«

»O nein, niemals. Es war eine Schande, wirklich. Sie war eine unglaublich gute Köchin.« Ruth seufzte.

»Wir haben die ganze Speisekammer voll mit selbst gemachter Marmelade und eingelegten Gurken und Zwiebeln und die Tiefkühltruhe voller selbst gebackener Kuchen und Torten und Pasteten, alles, was man sich nur denken kann. Alles Hesters Werk. Ich kann bestimmt nichts davon essen, das ist das Dumme. Die arme Hester … ich kann einfach nicht.«

»Aber natürlich kannst du«, unterbrach Muriel Scott sie.

»Man darf doch gutes Essen nicht verderben lassen.«

»Es wäre, als würde ich mit einem Geist zusammen essen«, sagte Ruth mit leiser, entschiedener Stimme. Markby räusperte sich und brachte die Unterhaltung wieder auf das ihn interessierende Thema zurück.

»Hat sie denn Verwandte? Irgendeinen nächsten Anverwandten, der informiert werden müsste?« Ruth schüttelte den Kopf.

»Niemand, von dem ich wüsste. Ich kannte ihre Mutter, aber sie ist seit einer Ewigkeit tot. Ihr Vater starb bereits, als sie noch ein kleines Mädchen war. Sie hat keine Geschwister. Sie bekam nie von irgendwoher eine Karte zum Geburtstag oder zu Weihnachten, und sie hat nie von irgendwelchen Verwandten geredet. Ich hab sie nie gefragt. Ich schätze, ich habe einfach angenommen, dass es niemanden sonst gab. Ich glaube, ich war der einzige Mensch, den sie hatte«, endete Ruth traurig.

»Ich verstehe. Erzählen Sie mir doch bitte von der Kirche. Wenn ich recht informiert bin, waren Sie und Miss Millar die Kirchenvorsteherinnen? War die Kirche immer offen? Zu allen Tageszeiten?«

»O nein. Vom Frühling an, wenn die Besucher kommen – wenn welche kommen –, schließen wir die Kirche nach dem Frühstück auf, irgendwann zwischen neun und zehn Uhr morgens, und sperren zum Tee wieder ab. Im Winter machen wir überhaupt nicht auf, außer, wenn wir zum Saubermachen reingehen. Und natürlich zu den Gottesdiensten. Jeden ersten Sonntag im Monat kommt ein Priester vorbei, und dann ist die Kirche den ganzen Morgen bis spät in den Nachmittag geöffnet. Im Allgemeinen kommt Pater Holland aus Bamford, manchmal auch der Reverend Picton-Wilkes, der zwar schon im Ruhestand ist, aber immer noch hin und wieder eine Messe liest.«

»Also war die Kirche heute offen? Für Besucher, meine ich, Touristen?«

»Ja.« Ruth nickte.

»Hester ist losgegangen, um aufzuschließen. Das heißt, sie hatte ein paar Besorgungen im Dorf zu erledigen, und das Aufschließen war eine davon.«

»Wie viele Sätze Schlüssel gibt es? Was ich wissen möchte – hatte Miss Millar ihren eigenen Kirchenschlüssel? Oder haben Sie sich einen Schlüsselbund geteilt?«

»Hester hatte eigene Schlüssel, und ich habe eigene Schlüssel. Pater Holland hat noch einen Satz. Das sind die einzigen drei Sätze, von denen ich weiß. Jeder besteht aus vier Schlüsseln an einem Ring, jeweils einer für die Nordtür, die als Haupteingang dient, einer für die Westtür, die seit was weiß ich wie vielen Jahren nicht mehr geöffnet war, einer für die Sakristei und einer für den Turm. Die Südtür wurde vor hundert Jahren zugemauert, keine Ahnung warum. Und in den Turm geht nie einer von uns. Dort oben gibt es nichts außer Fledermäusen. Sie sind ein rechtes Ärgernis, aber wir können sie nicht loswerden, sie sind geschützt, wie Sie wahrscheinlich wissen.«

»Ich verstehe«, sagte Markby.

»Ich überlege, ob ich mir nicht Ihren Satz Schlüssel ausleihen könnte? Wenn Sie die Schlüssel im Moment nicht bei sich haben, würde ich später jemanden bei Ihnen vorbeischicken, um sie zu holen. Selbstverständlich werden die Schlüssel zurückgebracht, sobald es möglich ist, doch für den Augenblick schätze ich, dass wir sie benötigen, um den … um die Spuren zu sichern, wenn Sie verstehen.« Ruth kramte in ihrer Handtasche.

»Ich müsste sie … ja, hier sind sie. Das sind meine.« Sie hielt Markby einen altmodischen Schlüsselbund hin.

»Nehmen Sie sie. Ich brauche sie nicht. Wie soll ich … wie soll ich jemals wieder die Kirche betreten?«

»Aber selbstverständlich wirst du das!«, unterbrach Muriel Scott sie streng. Markby steckte den Schlüsselbund ein.

»Also ist Miss Millar heute Morgen hergekommen, um die Kirche aufzusperren, richtig? Um welche Zeit ist das gewesen?« Ruth blickte verwirrt drein und hielt sich den Kopf, die Finger in den Haaren vergraben.

»Halb zehn oder so? Wir hören morgens immer Radio Four. Die Sendung Today, und sie war zu Ende, genau wie der Nachrichtenüberblick, der sich daran anschließt. Ich habe nicht sonderlich auf das Radio geachtet danach. Irgendein Interview, glaube ich.«

»Wissen Sie, welche Pläne Miss Millar sonst noch für den Morgen hatte? Es wäre nützlich zu erfahren, ob sie alles erledigt hat, bevor sie zur Kirche ging.«

»Ich bin nicht sicher«, räumte Ruth ein. Sie legte die Stirn in Falten und blickte unglücklich drein.

»Sie hatte ihre Lederhandtasche dabei, die gleiche wie immer, und vielleicht hatte sie noch eine Tasche bei sich, irgendetwas Kleineres, aber ich bin nicht ganz sicher. Ich habe nicht darauf geachtet, verstehen Sie? Es tut mir so Leid. Ich hätte sie fragen sollen. Aber sie sagte nur, sie hätte ein paar Dinge zu besorgen, einschließlich dem Aufsperren der Kirche, und wäre in weniger als einer Stunde wieder zurück.« Tränen füllten ihre Augen und rollten über ihre Wangen.

»Ich habe mich nicht mal umgedreht, um ihr Auf Wiedersehen zu sagen. Ich hab nur über die Schulter geblickt und sie neben der Tür gesehen. Ich murmelte ›okay‹ oder irgendwas in der Art. Wir haben uns nicht voneinander verabschiedet.« Muriel Scott blickte ruhelos drein. Markby bemerkte den Wink.

»Ich danke Ihnen, Mrs. Aston. Vielleicht können wir uns zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal unterhalten, wenn Sie eine Gelegenheit hatten, all das ein wenig zu verarbeiten. Ich denke, es ist ein furchtbarer Schock für Sie.« Er erhob sich. Meredith und Mrs. Scott standen ebenfalls auf. Muriel trat zu Ruth und beugte sich über sie. Meredith folgte Markby nach draußen in den Flur. Roger in seinem Gefängnis kratzte wie besessen an der Tür, winselte und verstummte dann, ohne Zweifel nur, um angestrengt zu lauschen.

»Es gibt da etwas, das ich dir vielleicht erzählen sollte«, begann Meredith mit leiser Stimme. Alan hob die Augenbrauen.

»Was denn?«

»Als ich Ruth zum ersten Mal begegnet bin, an dem Tag, an dem wir hier waren, um das alte Vikariat zu besichtigen, war ein alter Mann bei ihr, ein Einheimischer, wahrscheinlich der älteste Bewohner von Lower Stovey. Ruth nannte ihn Old Billy Twelvetrees. Sie erzählte mir, dass er Ausschau hält, wann sie kommt, um die Kirche aufzuschließen, und dann jedes Mal auf ein Schwätzchen vorbeikommt. Der Wirt des Pubs ist offensichtlich ein Neffe von Old Billy Twelvetrees und erwähnte mir gegenüber ebenfalls, dass sein Onkel sich gerne mit den Ladys unterhält, wenn sie zur Kirche kommen. Ich war übrigens gerade eben erst im Pub, um einen Kaffee zu trinken. Es ist ein eigenartiges Lokal. Es hat mir überhaupt nicht gefallen.«

»Du kommst vom Thema ab«, tadelte er sie.

»Richtig. Na ja, kurz bevor ich Hester fand, auf dem Weg durch das Tor über den Kirchhof, habe ich jemanden bemerkt. Er war ein gutes Stück entfernt, und ich konnte ihn nicht eindeutig erkennen, weil er mir den Rücken zugewandt hatte. Aber er besaß die Größe und Statur von Old Billy Twelvetrees, er humpelte genauso und stützte sich auf einen Stock. Er schien es sehr eilig zu haben, ist fast über die Gräber gesprungen, als wäre er vor irgendetwas oder irgendwem auf der Flucht.«

»Ah«, sagte Markby. Meredith legte ihm die Hand auf den Arm.

»Das ist noch nicht alles. Sobald die Neuigkeit über das, was passiert ist, die Runde im Dorf gemacht hat, sind von überall her Leute zur Kirche gekommen. Du musst die Menschenmenge vor der Kirche bemerkt haben. Gott weiß, wo sie sich vorher alle versteckt haben. Als ich heute Morgen hier ankam, hab ich nicht eine Menschenseele gesehen. Die Sache ist, Old Billy war nicht darunter. Wo also war – ist – er? Für einen so neugierigen Naseweis, als der er mir erschienen ist, erscheint mir das einigermaßen merkwürdig.« Sie atmete tief durch.

»Deswegen frage ich mich auch, ob ich wirklich die erste Person war, die Hester entdeckt hat.«

»Ich verstehe.« Markby rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Du meinst, der alte Mann hätte bemerkt, dass die Kirche offen war, und ging rein, um zu sehen, ob er mit einer der Kirchenvorsteherinnen ein Schwätzchen halten konnte. Er fand die tote Hester Millar, geriet in Panik und gab Fersengeld. Und jetzt bleibt er in Deckung.«

»Ich frage mich außerdem, ob er möglicherweise jemand anderen in der Kirche gesehen hat – oder ob irgendjemand anders ihn gesehen hat. Vielleicht solltest du versuchen, ihn möglichst schnell zu finden, Alan. Ich will dir nicht sagen, wie du deine Arbeit zu machen hast, aber ich mache mir Sorgen wegen des alten Knaben.«

»Wir kümmern uns darum, keine Angst. Zumindest erscheint er als ein möglicher Zeuge.« Markby wandte sich in Richtung Wohnzimmer um. Mrs. Scott hatte sich zu Ruth Aston auf das Sofa gesetzt und tätschelte ihr in verlegenem Mitgefühl die Schulter.

»Tut mir Leid, wenn ich Sie noch einmal stören muss«, sagte er.

»Aber gibt es jemanden im Dorf, eine ältere Person vielleicht, der über alles informiert ist, was die Leute so reden? Jemanden, der bereit wäre, sich mit mir zu unterhalten?«

»Der alte Billy Twelvetrees«, sagte Ruth, indem sie von dem zerknitterten Taschentuch aufblickte, das sie sich an die Augen gedrückt hielt.

»Dieser alte Taugenichts!«, schnaubte Muriel Scott.

»Wenn Sie mit ihm reden, müssen Sie die Hälfte von allem, was er sagt, wegstreichen. Was er nicht weiß, erfindet er kurzerhand.«

»Ich werde daran denken«, versprach Markby.

»Wo kann ich ihn finden?«

»Das zweite Cottage vom Pub aus, auf der linken Seite. Er hat eine Tochter, die bei ihm wohnt, Dilys Twelvetrees. Wenn Sie es schaffen, an ihr vorbeizukommen, wird sich Old Billy bestimmt freuen, mit Ihnen zu plaudern.«

»Das wäre zur Abwechslung einmal etwas anderes«, murmelte Markby an Meredith gewandt, als beide nach draußen gingen.

»Die meisten Leute, selbst die Unschuldigen, sind üblicherweise alles andere als erfreut, wenn die Polizei vor ihrer Tür auftaucht.« Wau, wau, wau!, bellte Roger hinter seiner Tür zustimmend.

KAPITEL 7

ALS MARKBY zur Kirche zurückkehrte, fand er eine Szene allgemeiner Verwirrung vor. Die Menschenmenge war so zahlreich wie zuvor, und zusätzliche Fahrzeuge waren eingetroffen, einschließlich einem, neben dem zwei ernst dreinblickende Männer geduldig und reglos abwartend standen. Obwohl die Neugierigen schoben und drängten, um einen besseren Blick auf die Kirche zu haben, gab es um den Lieferwagen und die beiden Männer herum einen freien Raum. Einen Cordon sanitaire, dachte Markby grimmig amüsiert. Einerseits waren die Menschen erfüllt von der grausigen Faszination eines gewaltsamen Todes – andererseits waren die damit verbundenen Formalitäten ungemütlich nahe. Pearce erschien, gehüllt in Schutzkleidung, als Markby sich der Veranda näherte.

»Sie wollen nicht gehen!«, sagte er ärgerlich und hielt sich die Backe.

»Stimmt was nicht?«, fragte Markby.

»Was? Oh. Nein, nein. Ich habe nur genug von diesen Gaffern da draußen! Warum gehen sie nicht einfach nach Hause?«

»Es ist doch immer das Gleiche, Dave. Sie gehen erst dann nach Hause, wenn sie sehen, dass der Leichnam fortgeschafft wurde.« Pearce rümpfte die Nase.

»Dr. Fuller ist da.«

»Dann sollten wir besser reingehen und uns mit ihm unterhalten«, murmelte Markby.

»Haben Sie einen Anzug für mich übrig?« Im Innern der Kirche waren Scheinwerfer aufgestellt, doch der Fotograf war bereits dabei, seine Ausrüstung wieder einzupacken. Fuller, der Pathologe, sah in seinem einteiligen Einweg-Schutzanzug aus wie ein Teddybär. Er stand ein wenig verloren bei der Toten.

»Das kommt mir wirklich höchst ungelegen«, sagte er, als Markby, inzwischen gleichermaßen gekleidet, zu ihm trat.

»Sie wollen eine Autopsie, so schnell wie möglich, und ich habe Karten für ein Konzert in der Festival Hall heute Abend. Meine Frau und ich haben uns seit langem darauf gefreut, aber wir hätten schon heute Nachmittag losfahren müssen. Wir hatten gehofft«, fuhr er fort und fixierte Markby mit einem anklagenden Blick, als wäre alles allein Alans Schuld,

»über Nacht in London zu bleiben. Meine Frau wollte einen Bummel durch die Geschäfte machen.«

»Was ist denn mit Streeter?«, erkundigte sich Markby. Streeter war der Assistent Fullers.

»In Marrakesch.«

»Urlaub?«

»Kein Urlaub, eine Konferenz. Fragen Sie mich nicht, warum man ausgerechnet Marrakesch ausgewählt hat.« Fuller richtete den missmutigen Blick auf die glücklose Hester Millar.

»Diese Lady hat meine Pläne beträchtlich durcheinander gebracht. Ich muss Miriam allein in London zurücklassen und mit einem frühen Abendzug zurückkommen, um diese Untersuchung durchzuführen.« Markby wusste nicht, ob er amüsiert oder ungehalten reagieren sollte. Er kannte Fuller seit vielen Jahren. Fuller war berüchtigt für seine Besessenheit von Musik und seiner Familie. Nichtsdestotrotz war der Mann ein richtiger Pedant, was seine Arbeit anging. Markby wusste, dass er die Ergebnisse der Obduktion binnen weniger Tage auf dem Schreibtisch haben würde. Fuller ließ nur gerade ein wenig Dampf ab, das war alles.

»Jetzt, nachdem Sie die Tote gesehen haben«, fuhr Fuller fort und deutete auf den Leichnam,

»können wir sie jetzt mitnehmen? Die Kollegen warten schon ungeduldig draußen vor der Tür.«

»Hab sie gesehen«, murmelte Markby.

»Falls Inspector Pearce nicht irgendetwas anderes vorhat, können sie meinetwegen den Leichnam abholen.« Die Männer des Bestatters trafen mit dem provisorischen Sarg ein. Sie hoben die leblose Masse, die früher einmal Hester Millar gewesen war, vorsichtig aus der Kirchenbank. Markby fiel etwas Glänzendes auf dem Boden neben den Füßen der Toten auf. Er trat vor und bückte sich. Mit einem Kugelschreiber hob er einen Schlüsselbund auf. Hesters Leichnam wurde in einen schwarzen Leichensack gelegt, der Sack mit einem Reißverschluss geschlossen und vorsichtig in den Sarg platziert. Markby und Dr. Fuller folgten den beiden Männern mit ihrer Last aus der Kirche nach draußen. Die Menschenmenge verstummte, als sie den Sarg erblickte, der in den Lieferwagen geladen und davongefahren wurde. Markby wandte sich an die Neugierigen.

»Also schön, Sie können jetzt beruhigt nach Hause gehen. Wir haben noch eine ganze Weile hier zu tun, aber es gibt nichts mehr zu sehen.« Die Menge scharrte mit den Füßen und druckste, doch dann wandten sich die Ersten zum Gehen. Zahlreiche Männer verschwanden im Fitzroy Arms. Fuller war bereits losgefahren.

»Gott sei Dank dafür«, murmelte eine Stimme schräg hinter Markby, und er wandte sich um. Es war Pearce. Markby winkte den Inspector zurück ins Innere der Kirche und hielt ihm den auf den Kugelschreiber aufgespießten Schlüsselbund hin.

»Die hier lagen versteckt unter der Toten. Sie hat die Kirche damit aufgeschlossen. Dann ging sie zu dieser Bank, legte die Schlüssel auf die kleine Ablage hier und als sie vornüberfiel, getroffen von einem Messerstich, wurden sie zu Boden gestoßen.« Pearce kramte in seinen Taschen und zückte einen kleinen Plastikbeutel, den er über die Schlüssel schob.

»Und«, fuhr Markby fort, indem er Ruths Schlüsselbund aus der Tasche zog,

»das hier ist der Schlüsselsatz von Mrs. Aston. Haben Sie die Sakristei überprüft, Dave?«

»Wir waren dort, ja«, antwortete Pearce.

»Sie liegt hinter diesem Vorhang. Es gibt einen kleinen Raum hinter einem Wandschirm. Er ist abgesperrt. Ich hatte gehofft, dass ich die Schlüssel von Mrs. Aston bekommen könnte. Ich wollte die Tür nicht aufbrechen; schließlich ist das hier eine Kirche. Der Aufgang zum Turm ist ebenfalls abgesperrt.«

»Dann sollten wir Ruth Astons Schlüsselbund wohl zum Einsatz bringen, nicht wahr?« Die beiden Männer gingen nach vorn zur Sakristei. Sie stand leer, bis auf einen alten Holztisch, in den die Initialen von längst toten Messdienern eingeritzt waren. Die Haken an der Wand waren ebenfalls nackt; keine Roben mehr, die früher einmal zweifellos dort gehangen hatten. Der Wandschirm, den Pearce erwähnt hatte, bestand aus schwarz gebeizter Eiche und reichte bis fast an die Decke. Die Lücke darüber war mit etwas ausgefüllt, das aussah wie Kaninchendraht. Markby schob den Schlüssel mit der Aufschrift

»Sakristei« in das Schloss. Er drehte sich mit Leichtigkeit.

»Jemand benutzt diese Tür regelmäßig«, stellte er fest.

»Das Schloss ist geölt.« Doch in dem winzigen Büro hinter der Tür befand sich nichts außer einer Schachtel mit Kerzen, zwei großen hölzernen Kerzenständern, einst vergoldet, doch inzwischen angelaufen und verkratzt, und einer Dose mit Politur. Eine SepiaFotografie hing schief an der Wand; auf ihr war ein Geistlicher des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen mit einem mächtigen Backenbart und einem Ausdruck von Zuversicht im Gesicht, der in ironischem Kontrast zur ausgeplünderten Umgebung stand.

»Vielleicht wird sie benutzt, wenn hier die Messe gelesen wird«, vermutete Pearce, während er in der Kerzenschachtel stocherte.

»Nichts drin.« Markby warf die Tür eines leeren Schranks zu.

»Sämtliche Kirchenaufzeichnungen müssen entfernt worden sein, als die Gemeinde kein eigenes Vikariat mehr hatte.« Er deutete auf einen helleren Fleck am staubigen Boden.

»Dort scheint früher ein Safe gestanden zu haben.« Sie schlossen die Sakristei wieder ab und gingen ins Hauptschiff und von dort aus weiter zur Tür, die hinauf in den Turm führte. Auch hier erwies sich der Zutritt als einfach. Markby betrachtete das Schloss.

»Ebenfalls geölt. Das ist eigenartig. Ruth Aston hat mir erzählt, dass die beiden Frauen nie hinauf in den Turm gestiegen sind.« Die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken und schwang lautlos nach innen. Markby streifte mit dem Finger über die Angeln und zeigte Pearce den schmierigen Ölfleck, der sich darauf gebildet hatte. Eine steinerne Wendeltreppe führte nach oben, dicht bedeckt mit Staub, in dem sich deutliche Fußabdrücke abzeichneten. Markby deutete auf die Spuren.

»Zwei Personen. Turnschuhsohlen, dem Muster nach zu urteilen. Zwei Jugendliche, einer davon älter? Oder ein Mann und eine junge Frau in Freizeitgarderobe.«

»Wer auch immer, er kaut Kaugummi«, sagte Pearce aufgeregt.

»Wir haben ein Stück gefunden, dort drüben. Es klebte an einem Bild über einem Grab. Aber er war ganz vertrocknet, klebte mindestens schon seit einer Woche dort, wenn nicht länger … Trotzdem, vielleicht waren sie hier oben, als Miss Millar in die Kirche kam und …«

»Und warum haben sie dann nicht einfach abgewartet, bis Miss Millar wieder gegangen war?«, unterbrach Markby ihn und deutete auf die Fußspuren.

»Außerdem hat sich in den Spuren bereits neuer Staub gesammelt, heller als der umgebende Staub. Sie sind demnach bereits älter. Ich würde sagen, mindestens zwei Wochen. Ihre Theorie funktioniert nicht, Dave, fürchte ich. Es ist mehr als eine Woche her, dass jemand hier oben war, aus welchem Grund auch immer. Zeit genug jedenfalls, damit sich neuer Staub ansammeln kann. Hester Millars Mörder hat sich jedenfalls nicht oben im Turm versteckt.« Pearce, der seine viel versprechende Theorie unvermittelt und eindeutig widerlegt sah, murmelte leise:

»Wirklich zu schade.« Die beiden Männer kletterten die schmale gewundene Treppe hinauf, wobei sie sorgsam darauf achteten, sich an der Außenseite zu halten, um die älteren Spuren nicht zu zerstören. Pearce stieg in Markbys Fußstapfen und fühlte sich wie der Page, der in dem Weihnachtsmärchen seinem König nach draußen in den Schnee folgen musste. In regelmäßigen Abständen passierten sie schmale Fensterschlitze, durch die man nach draußen auf den Friedhof und das Dorf dahinter sehen konnte. Oben kamen sie in einem winzigen Raum heraus, in dem es stark nach Alter, feuchtem Mörtel und Fledermausurin stank. Die Glocken hingen im Gestühl über ihren Köpfen, und die Seile verschwanden in einem rechteckigen Loch im Boden. Markby berührte Pearce am Arm und bedeutete dem Inspector, vorsichtig zu sein. Doch Pearce starrte auf etwas in der Ecke.

»Sehen Sie nur! Irgendjemand hat hier oben gelagert!« Ein Kerzenstumpf in einem Keramikhalter stand neben einem alten Schlafsack auf dem Boden. Der Reißverschluss war geöffnet und der Schlafsack wie zum Lüften ausgebreitet. Markby bückte sich und nahm eine kleine, leere Schachtel auf. Er hielt sie hoch, sodass Pearce die Aufschrift lesen konnte.

»Hier ist die Erklärung, die Sie gesucht haben, Dave. Kondome. Entweder haben die Jugendlichen im Dorf diesen ungestörten Flecken gefunden, oder irgendjemand hat sich hier zu einem unerlaubten Stelldichein getroffen. Wer auch immer es ist, er muss einen Schlüssel gefunden haben, mit dem er die Tür am Eingang zum Turm aufsperren kann. Sobald eine der Kirchenvorsteherinnen des Morgens kommt, um die Kirche aufzuschließen, setzt sich die betreffende Person mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin in Verbindung, und die beiden treffen sich hier oben.« Sie stiegen wieder hinunter in den Hauptraum der Kirche und sperrten die Turmtür ab. Markby reichte Pearce den Schlüsselbund.

»Hier, die nehmen Sie besser an sich. Ich habe Mrs. Aston versprochen, dass wir sie zu gegebener Zeit zurückbringen.« Er runzelte die Stirn.

»Wir müssen herausfinden, wer diesen anderen Schlüssel zum Turm besitzt, obwohl mir im Moment schleierhaft ist, wie wir das bewerkstelligen könnten. Unser geheimnisvolles Liebespaar wird sich wohl kaum freiwillig melden und zugeben, dass es die Kirche entweiht. Vielleicht haben sie einen Schlüssel, der rein zufällig ins Schloss passt. Diese altmodischen Bartschlösser lassen sich manchmal ganz einfach öffnen. Meine Mutter hatte früher eine ganze Schachtel alter Schlüssel für Notfälle, falls einer verloren ging. Falls es so ist, müssen wir uns nicht länger den Kopf zerbrechen. Andererseits haben unsere Unbekannten vielleicht den gesamten Satz Kirchenschlüssel, für den Eingang und die Sakristei, was heißen würde, dass die Katze im Taubenschlag ist. Obwohl Ruth sagt, dass nur sie, Hester und James Holland einen Schlüssel besitzen. Ich muss James deswegen fragen. Die Vorstellung eines vierten Schlüsselsatzes, von dem niemand weiß, bereitet mir echte Kopfschmerzen.« Pearce grunzte und schob die Schlüssel in die Tasche.

»Wie sind Sie im Haus zurechtgekommen, Sir? Mit Mrs. Aston und dieser anderen verrückten alten Lady mit dem gestreiften Strickpullover?« Markby fasste seine Unterhaltung mit Ruth Aston zusammen und informierte Pearce, dass Meredith jemanden über den Friedhof davonhumpeln sehen hatte, als sie zur Kirche gegangen war.

»Wahrscheinlich war es dieser alte Bursche, Old Billy Twelvetrees. Er ist das einheimische Klatschmaul, aber er ist bisher noch nicht aufgetaucht. Zumindest konnte ich in der Menschenmenge niemanden sehen, auf den Merediths Beschreibung gepasst hätte. Ich dachte, ich gehe bei seinem Cottage vorbei und sehe nach, was dort los ist.«

»Es sind wirklich eigenartige Leute«, beobachtete Pearce und meinte die Dorfbewohner im Allgemeinen.

»Liebespärchen im Glockenstuhl und so. Viel Glück, Sir.«

Markby war sich durchaus bewusst, dass er während des kurzen Weges von der Kirche zum Cottage von Billy Twelvetrees beobachtet wurde. Er konnte es nicht ändern. Es war unmöglich, in diesem Dorf eine Untersuchung durchzuführen, ohne dass die Diskretion verletzt wurde, ganz zu schweigen von der Privatsphäre der Betroffenen. Die Atmosphäre der Aufregung ringsum war fühlbar. Es würde wohl nur noch schlimmer werden, wenn die Pendler am Abend von der Arbeit heimkehrten und sich im Fitzroy Arms sammelten, um sich die Ereignisse des Tages schildern zu lassen. Gemischt in die Aufregung war eine Art von dezentem Entsetzen und vielleicht sogar ein Gefühl von Empörung, dass eine solche Tat in einer kleinen friedlichen Gemeinde wie dieser hatte stattfinden können.

Oder bin ich selbst derjenige, der so empfindet?, fragte sich Markby zurückblickend auf den letzten Fall, den er in dieser Gemeinde bearbeitet hatte. Übertrage ich das, was ich damals empfunden habe, in das Hier und Jetzt? Es war ein merkwürdiges Gefühl, etwas, das man vermutlich Déjà-vu nennen konnte, nach einer Lücke von mehr als zwanzig Jahren erneut an die Pforten von Lower Stovey zu klopfen. Das äußere Erscheinungsbild von Lower Stovey hatte sich in den dazwischenliegenden Jahren verändert, wie ihm bereits bei seiner Besichtigung von Old Vicarage zusammen mit Meredith aufgefallen war. Trotz der verschwundenen Läden und der geschlossenen Schule sah die Gemeinde aus, als würde sie gedeihen. Nahezu sämtliche Cottages an der Hauptstraße waren gestrichen und mit Kutschlampen und ähnlichen Dingen verziert. Markby schätzte, dass es sich ausnahmslos um Wochenendheime handelte.

In der Reihe glänzender, wohlhabender Behausungen stach das Cottage der Twelvetrees hervor wie ein fauler Zahn in einer Reihe perfekter Nachbarn. Es war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Das reetgedeckte Dach war dunkelbraun und löste sich allmählich auf. Es wurde offensichtlich nur noch von einem Netz aus Kaninchendraht zusammengehalten, durch das man Flecke von Moos und sprießendes Unkraut sehen konnte. Die Holzrahmen der Fenster waren verrottet, doch die Scheiben waren sauber geputzt, genau wie der Fuchskopf aus Messing, der als Türklopfer diente. Markby betätigte ihn. Er hatte noch keinen Blick ins Innere des Hauses geworfen, doch er konnte sich denken, was er vorfinden würde.

Einige Minuten lang geschah überhaupt nichts. Markby hörte ein Rascheln über sich und wusste, dass jemand den Kopf aus dem winzigen Fenster unter dem verrottenden Reet steckte, um nachzusehen, wer der Besucher war. Schließlich erzitterte die Tür und öffnete sich nach innen.

Markby stand einer Frau mittleren Alters in einem pinkfarbenen Overall gegenüber. Die Farbe biss sich mit der ihrer dicht gelockten, lachsfarbenen Haare. Das Gesicht war rund und stupsnasig. Die Unterlippe war voller als die Oberlippe und stand ein wenig vor, eine Andeutung dessen, was Zahnärzte einen Überbiss nennen, wenn der Unterkiefer weiter nach vorn ragt als der Oberkiefer, wie bei einem Boxer. Die Frau blickte Markby aufsässig an, und Markby fühlte sich noch stärker an eine verärgerte Bulldogge erinnert. Er hielt ihr seine Dienstmarke hin.

»Wir haben nichts damit zu tun!«, stieß die Frau hervor.

Er ignorierte ihre Worte.

»Könnte ich mit Mr. Twelvetrees sprechen? Dies ist doch sein Haus?«

»Daddy ist nicht da. Er hat nichts mit der Sache zu tun, genauso wenig wie ich. Wie könnte er, in seinem Alter und seinem Gesundheitszustand?«

»Wo ist er?«, fragte Markby direkt.

»Ich weiß es nicht. Spazieren gegangen, wie er es immer tut.«

»Wo geht er normalerweise spazieren?« Sie stieß etwas wie ein Zischen aus.

»Irgendwo hier im Dorf. Er kommt nicht weit, wegen seiner Hüfte.«

»Oh?« Markby lächelte sie unschuldig an.

»Das tut mir Leid zu hören. Hat er einen Gehstock?«

»Natürlich hat er einen!« Sie nickte heftig, und Markby fühlte sich an die unzähligen Brote mit Seelachs erinnert, die er als Kind hatte essen müssen.

»Aber was er wirklich braucht, ist eine von diesen neuen Hüften. Der Doktor sagt es. Dad ist störrisch. Er will nicht in ein Krankenhaus, unter keinen Umständen.« Sie funkelte Markby an, und in die sich daran anschließenden Stille kam eine willkommene Ablenkung. Vom anderen Ende des schmalen Flurs, hinter einer Tür, wurde eine weitere Tür geschlagen. Markby hörte jemanden schnaufen und ein Geräusch wie von einem Gehstock, der auf Fliesen tappte. Es schien einen Hintereingang zu geben, der nach draußen auf eine Gasse hinter den Cottages führte. Markby lächelte die Frau erneut an, was sie zu verängstigen schien.

»Es klingt, als wäre Ihr Vater soeben nach Hause gekommen. Warum gehen Sie nicht und sehen nach?« Er setzte sich in Bewegung, während er sprach, und sie wich zurück und ließ zu, dass er sich an ihr vorbei in den Flur zwängte. In diesem Augenblick wurde die Tür am anderen Ende geöffnet, und die stämmige Gestalt eines älteren Mannes erschien und füllte den Rahmen völlig aus. Er hob seinen Stock und stieß ihn aggressiv in Richtung des Fremden.

»Wer ist dieser Bursche?«, verlangte er von seiner Tochter zu erfahren.

»Ein Polizeibeamter, Dad«, sagte sie.

»Keine Ahnung, was er will. Er sagt, er möchte mit dir reden. Ich wüsste keinen Grund dafür.« Ihre Worte waren begleitet von einem verächtlichen Seitenblick auf Markby.

»Ich schätze, sie müssen so tun, als würden sie was tun. Es ist nämlich was passiert. Jemand ist tot. Ich hab ihm schon gesagt, dass du nichts damit zu tun hast.«

»Mord!«, deklarierte der Alte mit unüberhörbarer Befriedigung,

»Ich bin auf dem Heimweg jemandem begegnet, der mir alles erzählt hat. Nun, Mr. Polizist, dann kommen Sie wohl besser mal rein in meine gute Stube, wie die Spinne zur Fliege sagt.« Und zu Markbys nicht ungelindem Schrecken stieß er ein laut gackerndes Lachen aus. Seine Tochter schoss vorwärts und schob ihn in die Küche zurück.

»Zuerst ziehst du deine schmutzigen Stiefel aus, Dad!«, befahl sie mit lauter Stimme. Über die Schulter fügte sie an Markbys Adresse hinzu.

»Gehen Sie schon rein und warten Sie auf ihn. Er kommt gleich.« Markby ging gehorsam ins Wohnzimmer. Der Raum, in dem er sich wiederfand, verriet die Armut seiner Bewohner – keinen Mangel an Einkommen aus jüngerer Zeit, sondern einen, der sich über Generationen erstreckte. Arme Leute bringen arme Leute hervor, gefangen in einer kargen Existenz nicht nur durch den Mangel an Geld, sondern auch durch einen Mangel an Bildung und ein tiefes Misstrauen und Angst gegenüber der Welt draußen. Er war nicht überrascht, dass Billy Twelvetrees nicht ins Hospital wollte. Er schätzte, dass die bloße Vorstellung den alten Mann zutiefst verängstigte. Er hatte sein ganzes Leben lang hier gewohnt, und er verspürte nicht den geringsten Wunsch, in diesem hohen Alter plötzlich von Fremden umgeben zu sein. Markby wusste, dass ihm ein oder zwei Minuten blieben, um seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Old Billy Twelvetrees und seine Tochter würden Informationen austauschen und gemeinsam überlegen, was sie am besten mit dem unerwarteten Besucher anfangen sollten. Billys Neugier würde ihn möglicherweise begierig auf ein Schwätzchen machen. Der Instinkt seiner Tochter war, ihm zu sagen, dass er den Mund halten und diesen Bullen abwimmeln solle und dass die ganze Sache sie nichts anging. Die Sorte Frau war Markby nicht unvertraut. Es war ein Fehler zu glauben, dass sie wegen ihres Aussehens und ihrer Umstände nicht über ein scharf denkendes Gehirn verfügte. Sie verfügte außerdem über die ausgeprägten Instinkte, die ihresgleichen eigen waren, nämlich beim leisesten Zeichen von Gefahr ihre Jungen zusammenzuhalten und zu beschützen und sich zwischen sie und jede Bedrohung zu stellen. Ihr gebrechlicher Vater war durch Alter und Invalidität zu ihrem Kind geworden. Es war die gleiche eigenartige, traurige Rollenumkehr, die man so oft beobachten konnte, wenn aus dem einstigen Versorger derjenige wurde, der versorgt werden musste. Das Zimmer war voll gestopft mit Mobiliar, und alles war abgerissen und klapprig. Neben dem Kamin stand ein Lehnsessel mit verblassten losen Polstern, der so aussah, als wäre er häufig benutzt worden. Billys Sessel, schätzte Markby. Über dem Kaminsims hing ein Sepia-Porträt eines Mannes in einer Uniform aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Darunter, auf dem Sims, standen weitere Fotografien. Eine, ebenfalls Sepia, zeigte zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, gekleidet in ihren Sonntagsstaat, die elend in die Kamera blickten. Daneben, in krassem Gegensatz, ein jüngeres Foto einer pummeligen Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Dilys Twelvetrees aufwies, auch wenn sie besser angezogen war mit ihrem geblümten Kleid und dem weißen Top, und die glücklich in die Linse lächelte. Das Gebäude hinter ihr wirkte unreal, eine Komposition aus Türmchen und Zinnen. Markby starrte angestrengt darauf in dem Versuch, es zu identifizieren, als die Tür geöffnet wurde. Er drehte sich schuldbewusst um. Old Billy Twelvetrees humpelte herein und knallte den Stock auf den abgewetzten Teppich. Hinter ihm drängte seine Tochter nach, doch er wies sie mit

»Geh und mach uns einen Tee, Dilys« ab. Dilys gehorchte, und Billy nahm in seinem Lehnsessel Platz. Falls es in der Küche zwischen ihm und seiner Tochter einen Streit gegeben hatte, dann hatte Billy ihn eindeutig gewonnen. Markby, der schätzte, dass er keine Einladung erhalten würde, Platz zu nehmen, setzte sich auf einen edwardianischen Esszimmersessel, der so klapprig war, dass er sich nicht sicher anfühlte.

»Sie haben unsere Bilder angesehen«, sagte Billy mit einem gewissen Stolz in der Stimme. Er hob erneut seinen Gehstock und benutzte ihn, um in der Art und Weise eines altmodischen Lehrers auf die Fotos zu deuten.

»Das große da, das zeigt meinen Vater. Das andere dort, das sind meine Schwester Lilian und ich. Lilians Sohn Norman ist heute der Wirt vom Pub. Hat es zu was gebracht, der Norman. Das da ist meine ältere Tochter Sarah in Florida, Disneyland. Und das da am anderen Ende sind meine Frau und meine Kinder. Es wurde gemacht, als der Junge gerade in die Schule gekommen war. Wir hatten damals nämlich noch eine Schule hier in Lower Stovey. Heut haben sie Wohnungen draus gemacht und neue Häuser hingestellt.« Markby betrachtete das Foto, das eine pummelige, mürrische Frau mit einem Baby auf dem Schoß zeigte. Zu beiden Seiten standen zwei andere Kinder, ein Knabe von etwa fünf Jahren und ein Mädchen, das ein wenig jünger war. Das Baby musste Dilys Twelvetrees sein.

»Ihre Tochter, die mir geöffnet hat, sie wohnt bei Ihnen, Mr. Twelvetrees?«, fragte er.

»Wohnt seit Jahren bei mir, ja. Ich hab sie bei mir aufgenommen. Ihr Mann, Ernie Pullen, ist damals abgehauen, sechs Monate nach ihrer Hochzeit. Er ist durchgebrannt, mit der Kellnerin vom Fitzroy Arms. Nie wieder was von den beiden gesehen oder gehört. Keine Ahnung, warum er unsere Dilys überhaupt geheiratet hat. Sie war nie eine von den richtig Hübschen.« Die Tür öffnete sich, noch während er sprach, und Dilys betrat das Zimmer mit dem Tee. Ihr rotes Gesicht verriet Markby, dass sie gelauscht und die Bemerkungen ihres Vaters mitbekommen hatte. Sie stellte das Blechtablett mit unnötiger Vehemenz auf einen kleinen Tisch und zog sich schweigend zurück. Billy Twelvetrees kicherte belustigt. Er nahm einen dampfenden Becher und nippte daran. Der Tee war offensichtlich sehr heiß. Markby berührte seinen Becher vorsichtig und zog die Hand zurück.

»Hester Millar, wie ich gehört habe«, sagte Billy, indem er abrupt zum Grund von Markbys Besuch wechselte.

»Sie wurde ermordet.«

»Das ist korrekt. Sie kannten Miss Millar, wie ich annehme?« Der alte Mann nickte und schlürfte mehr von seinem Tee.

»Sie und Mrs. Aston kümmern sich um die Kirche. Sie machen sauber und so weiter. Mrs. Aston ist die Tochter vom alten Vikar.«

»Sie gehen gerne in die Kirche und unterhalten sich mit den beiden, habe ich gehört?«

»Haben Sie?« Billy Twelvetrees funkelte Markby an.

»Und wo haben Sie das gehört, wenn ich fragen darf?« Markby lächelte ihn nichts sagend an und schwieg.

»Schon möglich, dass ich mich hin und wieder gerne unterhalte«, räumte Old Billy schließlich widerwillig ein.

»Wann haben Sie das letzte Mal mit einer der beiden Frauen in der Kirche gesprochen?«

»Das ist eine ziemlich dämliche Frage, meinen Sie nicht? Ich hab keine Ahnung. Vielleicht gestern, vielleicht vorgestern. Für mich ist ein Tag mehr oder weniger wie der andere. Warten Sie nur ab, Ihnen geht es genauso, wenn Sie so alt sind wie ich.«

»Heute nicht?«

»Nein.« Billys kleine tückische Äuglein begegneten Markbys Blick ohne zu zucken.

»Heut war ich nicht dort.«

»Haben Sie Miss Millar draußen vor der Kirche gesehen, beispielsweise auf dem Weg hinein?«

»Nein. Warum sollte ich?«

»Weil ein Zeuge beobachtet hat, wie sie hastig vom Friedhof geflüchtet sind, in der hinteren Ecke.« Billy schnitt eine Grimasse.

»Wer ist dieser Zeuge? Er braucht wohl eine Brille, wer auch immer es sein mag.« Markby wartete schweigend. Billy dachte über das Gesagte nach.

»Könnte sein«, sagte er dann,

»verstehen Sie mich nicht falsch – könnte –, dass ich bei meinem Spaziergang ein Stück über den Friedhof abgekürzt hab. Das mach ich öfters. Ich kann mich nicht genau erinnern. In meinem Alter lässt das Gedächtnis nach. Aber ich weiß, dass ich nicht in der Nähe der Kirche war, ganz sicher nicht. Und ich hab niemanden gesehen.« Billy schien zufrieden mit seiner einigermaßen widersprüchlichen Aussage.

»Das ist alles«, fügte er hinzu und hob seinen Becher wieder an den Mund.

»Gibt es sonst noch jemanden im Dorf, der die Angewohnheit hat, die Kirche zu besuchen?«, erkundigte sich Markby.

»Nicht dass ich wüsste.« Billy Twelvetrees zuckte die Schultern.

»Es sei denn Besucher. Sie kommen her, um die Denkmäler anzusehen. Wir haben ein paar ziemlich gute Denkmäler. Sie stammten fast alle von den Fitzroys. Das war früher die große Familie hier. Heute ist niemand mehr übrig von ihnen. Erst vor ein paar Tagen war eine Besucherin hier, eine große, gut aussehende Frau. Sie und ihr Partner, wie sie ihn nannte …« Billy kicherte,

»… die beiden waren hergekommen, um Old Vicarage zu besichtigen. Wollen es vielleicht kaufen. Sollten sich mal den Kopf nachsehen lassen, so ein verdammt großes Haus zu kaufen. Leiden wohl an Größenwahn oder so.«

»Ja«, sagte Markby unbehaglich.

»Ich denke nicht, dass wir näher auf diese Besucher eingehen müssen. Sonst noch jemand?«

»Wer kommt schon jemals nach Lower Stovey?«, konterte Billy.

»Es liegt am Ende der Welt.«

»Aber Sie haben Ihr gesamtes Leben hier gewohnt, richtig?«, hakte Markby nach.

»Früher war es ein ganzes Stück lebendiger hier«, grollte Billy.

»Bevor sie uns die Schule weggenommen und das Vikariat dichtgemacht haben. Früher hatten wir sogar ein paar kleine Läden. Sie sind verschwunden. Heut kommt so ein Bursche mit einem Lieferwagen ein paar Mal die Woche vorbei und verkauft Lebensmittel. Der Kerl ist sündhaft teuer. Mrs. Aston nimmt Dilys einmal in der Woche mit nach Bamford, und Dilys besorgt dort unsere Einkäufe. Dilys putzt für Mrs. Aston. Sie ist eine nette Person, die Mrs. Aston.«

»Und Miss Millar? War sie ebenfalls nett?«

»War sie.« Billy saugte Luft zwischen seinen verfärbten Zähnen hindurch.

»Aber sie war keine Einheimische. Mrs. Aston ist eine von uns.« Ob es der armen Ruth Aston nun gefiel oder nicht, überlegte Markby, sie würde im Kopf der einheimischen Bevölkerung des Ortes für alle Zeiten mit Lower Stovey verbunden bleiben.

»Sie ging sogar eine Weile auf unsere Dorfschule«, berichtete Billy weiter.

»Zusammen mit unserer Sandra und mit Dilys.« Markby dachte unwillkürlich, dass die Zeit offensichtlich freundlicher mit Ruth Aston umgegangen war als mit Dilys. Die beiden Frauen mussten im gleichen Alter sein, doch Dilys sah wenigstens zehn Jahre älter aus.

»Ich erinnere mich noch an die Zeit, als es im Dorf eine Schule gab«, sagte Markby. Billy starrte ihn überrascht an. Langsam setzte er seinen Becher ab.

»Wie kann das sein?«, fragte er.

»Ich war schon einmal hier, vor langer Zeit. Vor zweiundzwanzig Jahren, um genau zu sein. Damals gab es die Schule noch, genau wie das Postamt und die Geschäfte.«

»Ach, tatsächlich?« Billy musterte sein Gegenüber misstrauisch.

»Man hätte das Postamt niemals schließen dürfen. Ich kann nirgendwo mehr meine Pension abholen gehen. Dilys muss sie für mich in Bamford abheben, wenn sie dort ist.« In seiner Stimme war ein Unterton von aufrichtiger Empörung. Markby fragte sich, ob die Tatsache, dass Dilys die Pension für ihren Vater abheben ging, gleichbedeutend damit war, dass sie einen großen Teil für den Haushalt einbehielt und ihrem Vater stets nur kleine Beträge gab, die seine Möglichkeiten im einheimischen Pub beträchtlich einschränkten.

»Es gab eine Reihe von Übergriffen gegen Frauen in Stovey Woods«, fuhr Markby fort.

»Das war der Grund, aus dem ich damals hier war.«

»Ich erinnere mich«, murmelte Billy und starrte in seinen leeren Becher. Er blickte auf, und seine verschrumpelten Lippen verzogen sich zu einem unfreundlichen Lächeln.

»Ich hab nie viel davon gehalten. Diese jungen Dinger treiben es, und dann kriegen sie es mit der Angst, sie könnten schwanger geworden sein. Sie erfinden Geschichten. Fragen Sie im Dorf, wen Sie wollen.« Markby erinnerte sich sehr wohl an diese Einstellung der Dorfbewohner von damals. Es ärgerte ihn heute genauso wie früher.

»Zwei der Opfer kamen von außerhalb, eine Anhalterin und eine Radfahrerin auf der alten Viehtrift«, stieß er aufgebracht hervor.

»Da haben Sie’s!«, entgegnete Old Billy Twelvetrees ungerührt.

»Was hatten sie hier draußen zu suchen, so ganz allein? Junge Dinger wie diese? Das ist nicht schicklich. Sie haben den Ärger herausgefordert und ihn bekommen.« Er stieß den Zeigefinger in Markbys Richtung.

»Die Polizei hat nie einen Täter gefunden, oder? Kein Wunder, wenn Sie mich fragen. Es hat nie einen Kartoffelmann gegeben.«

»Sie erinnern sich sehr gut an den Spitznamen, den die Presse ihm damals gegeben hat«, beobachtete Markby trocken.

»Natürlich erinnere ich mich! Aber das bedeutet noch lange nicht, dass der Kerl echt war! Das war er nämlich nicht. Seit ich ein Junge war, hat es immer wieder Geschichten über Stovey Woods gegeben. Die Leute meinten, es wäre ein verwunschener Ort. Sie sagten, der Grüne Mann triebe dort sein Unwesen. Kennen Sie die Geschichten vom Grünen Mann?«

»Ich hab davon gehört, ja«, sagte Markby.

»Schön, dann wissen Sie ja alles, was Sie wissen müssen. Die Leute haben immer geglaubt, dass irgendwas in diesen Wäldern sein Unwesen treibt, und als diese jungen Dinger anfingen mit ihren Geschichten, erinnerten sich die Leute an die alten Legenden. Nur, dass sie ihn nicht den Grünen, sondern den Kartoffelmann nannten. Aber es ist der gleiche Bursche, und es ist der gleiche Unsinn wie damals.« Billy deutete auf das Foto von Sandra vor dem Hintergrund von Disneyland.

»Es ist genauso echt wie alles, was man dort sehen kann. Zwerge und Feen und Hexen und so weiter. In den alten Tagen haben die Leute allen möglichen Unsinn geglaubt. Sie waren einfache Menschen«, schloss Billy, indem er seine Vorfahren herabwürdigte.

»Dumm wie Bohnenstroh.« Markby erhob sich von seinem Platz.

»Ich halte Sie jedenfalls nicht für dumm wie Bohnenstroh, Mr. Twelvetrees. Ich möchte, dass Sie sorgfältig über den heutigen Tag nachdenken, über Ihren Spaziergang, über den Kirchhof, ob Sie in der Kirche gewesen sind und sich mit Miss Millar oder sonst wem unterhalten haben oder nicht. Die Polizei wird sich wieder bei Ihnen melden. Wahrscheinlich nicht ich, sondern ein anderer Beamter.«

»Ich werd ihm das Gleiche sagen wie Ihnen«, entgegnete Billy Twelvetrees mürrisch. Dann hellte sich seine Miene auf.

»Hey, sagen Sie denen doch, sie sollen mir eine von diesen jungen Polizistinnen schicken!« Er zwinkerte Markby verschlagen zu.

»Vielleicht würde ich mit so einer reden, wer weiß?«

»Ich finde allein nach draußen«, sagte Markby und ignorierte den Vorschlag. Was für ein unangenehmer alter Teufel Billy Twelvetrees doch war. Und er log wie gedruckt. Entweder hatte er Hester vor der Kirche oder in der Kirche gesehen, so viel stand fest. Markby war bereit, seinen letzten Penny darauf zu verwetten. Der Flur war leer, doch Markby konnte hören, wie Dilys sich in der Küche zu schaffen machte. Er klopfte an die Tür und öffnete sie vorsichtig. Er wurde mit dem Anblick von Dilys’ pinkfarbener Kehrseite belohnt; sie stand über einen gesprungenen emaillierten Küchentreteimer gebeugt. Markby räusperte sich. Dilys zuckte zusammen und richtete sich auf. Der Deckel des Treteimers fiel krachend zu. Sie wirbelte zu ihm herum.

»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gehe«, sagte Markby.

»Schön, gut, gehen Sie.« Sie wirkte erleichtert.

»Dad hatte also nichts zu sagen, wie?«

»Ich schätze, das wird er Ihnen selbst erzählen. Wenn ich richtig informiert bin, putzen Sie bei Mrs. Aston und – und Miss Millar?«

»Ich arbeite für Mrs. Aston«, antwortete Dilys pedantisch.

»Miss Millar war nur zu Besuch bei ihr. Es war nicht ihr Haus.«

»Waren Sie heute dort?« Sie schüttelte den Kopf.

»Um diese Jahreszeit bin ich nicht jeden Tag bei Mrs. Aston, nur dienstags und freitags. Im Winter arbeite ich zusätzlich wegen des alten Kamins. Sie verbrennen Holz darin. Die Ladys machen kaum Unordnung. Ich gehe zu ihnen und mache die grobe Arbeit, wie sie anfällt, das ist alles.«

»Ihr Vater hat erzählt, Sie wären zusammen mit Ruth Aston zur Schule gegangen?« Sie blinzelte.

»Nur für zwei Jahre. Dann nahm der Vikar sie von unserer Schule und schickte sie auf irgendeine schicke Privatschule. Keine Ahnung, warum sie Mrs. Aston überhaupt zu uns auf die Schule geschickt haben. Der alte Vikar hatte ständig so merkwürdige Ideen und Vorstellungen. Wissen Sie, er hat sich eingebildet, einer von uns aus dem Dorf zu sein.« Dilys schnaubte.

»Er und aus dem Dorf! Manchmal hab ich gedacht, er wäre besser selbst Lehrer geworden, ständig mit dem Kopf in irgendwelchen Büchern! Er hatte jede Menge dummer Ideen und wollte immer alles wissen, insbesondere über unsere einheimischen Legenden, wie er sie nannte.«

»Wie die Legende vom Grünen Mann?«, fragte Markby.

»O ja. Er war sehr begierig darauf, alles über den Grünen Mann zu erfahren. Er klopfte bei den Leuten an die Tür und fragte, ob sie irgendwelche Geschichten kannten. Überlieferung, nannte er es. Kein Wunder, dass das halbe Dorf dachte, er hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank.« Markby streckte ihr die Hand hin.

»Danke sehr, Dilys.« Sie blickte bestürzt auf die ausgestreckte Hand, doch dann legte sie nervös die kurzen Stummelfinger hinein.

»Kein Problem, wirklich nicht«, sagte sie mit piepsiger Großzügigkeit in der Stimme. Zurück im Wagen wollte Markby den Zündschlüssel ins Schloss schieben, als er zu seiner Überraschung einen pinkfarbenen Fleck auf der Hemdenmanschette entdeckte. Er hatte sorgfältig darauf geachtet, weder den Leichnam noch sonst irgendetwas in seiner direkten Umgebung zu berühren. Er runzelte die Stirn, spähte aus zusammengekniffenen Augen auf den Fleck, schnüffelte daran und betastete ihn schließlich vorsichtig. Er war zuckrig – wahrscheinlich irgendwas, was er in der Küche von Dilys Twelvetrees gestreift hatte. Bestimmt nicht einfach zu entfernen. Dilys hatte, auf ihre Weise, das letzte Wort gehabt.

Nachdem er Pearce mit der weiteren Durchführung der Ermittlungen in Lower Stovey beauftragt hatte, fuhr Markby nach Bamford zurück. Je mehr Entfernung er zwischen sich und das Dorf legte, desto mehr fühlte er sich, als würde er aus dichtem Nebel in den Sonnenschein fahren. Das Gefühl hatte nichts mit dem Wetter zu tun – es war ein milder, nicht weiter bemerkenswerter Tag –, sondern mit der Atmosphäre, die über der Ortschaft lag. Trotzdem gelang es ihm nicht, sich völlig von dem zu distanzieren, was sich an diesem Morgen in Lower Stovey ereignet hatte. Er musste einen Besuch machen. Das Vikariat von Bamford war Markby vertraut, und der

Vikar, Pater James Holland, war ein alter Freund. Dennoch besuchte Markby den Vikar für gewöhnlich nicht ohne vorherige Ankündigung. Auf dem Weg zur Haustür des Vikariats später an diesem Tag sinnierte Markby, dass der Vikar sich wahrscheinlich denken würde, dass Alan in einer polizeilichen Angelegenheit kam, sobald er ihn erblickte.

»Alan!«, rief James Holland mit einem schmeichelnden Unterton des Vergnügens in der Stimme, bevor er wie erwartet hinzufügte:

»Stimmt irgendwas nicht? Kommen Sie rein und erzählen Sie mir davon.«

Der Vikar führte Alan in seine antiquierte Küche, füllte den Wasserkocher, stöpselte ihn ein und wandte sich zu seinem Besucher um.

»Tee oder Kaffee?«

»Tee, bitte, falls es Ihnen nichts ausmacht.«

»Kommt aus dem gleichen Kessel«, entgegnete James Holland gelassen und erinnerte Markby unfreiwillig an den Getränkeautomaten im Regionalen Hauptquartier. Der Tee von James Holland war glücklicherweise eine große Verbesserung im Vergleich zu dem Gebräu, das aus der grauenvollen Maschine tröpfelte. Sie trugen ihre Becher ins Arbeitszimmer und setzten sich einander gegenüber in die großen, bequemen, wenngleich alten Lehnsessel. Zu Markbys Rechten befanden sich große französische Fenster, durch die man hinaus in den verwilderten Garten sehen konnte. Die frühe Abendsonne tauchte die Vegetation in ein warmes, goldenes Licht.

»Das ist ein hübsches Zimmer«, stellte Markby anerkennend fest. James Holland nickte.

»Es ist ein hübsches Haus – oder wäre es, wenn man es einmal richtig renovieren würde. Keine Chance, dass so etwas geschieht. Der Bischof ist immer noch darauf bedacht, es zu verkaufen und mich in eine moderne Drei-Zimmer-Schuhschachtel in irgendeiner Neubausiedlung zu verfrachten. Das PCC kämpft mit Händen und Füßen gegen diesen Plan, und die Stadtverwaltung von Bamford ist auch nicht begeistert von der Idee, weil sie nicht weiß, was aus diesem wohl bekannten Gebäude mitten im Stadtzentrum wird. Also sitze ich weiter hier, und das Haus fällt mir nach und nach über dem Kopf zusammen.«

»Meredith und ich waren draußen in Lower Stovey, um uns ein altes Vikariat anzusehen«, berichtete Markby.

»Immer noch auf der Suche nach einem geeigneten Haus? In Lower Stovey? Ein wenig weit abseits vom Schuss, sollte man meinen«, bemerkte James Holland nachdenklich. Er nahm einen Schluck von seinem Tee, und während er den Becher an den Mund hielt, verschwand er halb in seinem buschigen schwarzen Bart.

»Die Seelen von Lower Stovey sind Ihrer Obhut anvertraut, glaube ich.« Der Vikar nickte.

»Ich fahre nur einmal im Monat raus. Manchmal übernimmt auch der alte Picton-Wilkes einen Gottesdienst für mich. Er ist im Ruhestand und über achtzig, aber er hat gerne noch eine Hand im Spiel. Die Kirche von Lower Stovey ist nach dem heiligen Barnabas benannt und ein sehr schönes Gebäude, aber sie bedeutet ein Problem für die Diözese.«

»Zu groß für die Gegebenheiten, nehme ich an?« Ein weiteres Nicken.

»Es gibt kaum noch Gläubige, die zum Gottesdienst kommen, und die Kirche wird durch die vereinigten Bemühungen zweier Ladys in Schuss gehalten, die sich als Kirchenvorsteherinnen betätigen. Eine der beiden, Ruth Aston, ist die Tochter des letzten Amtsinhabers dort. Er ist, warten Sie, vor achtzehn Jahren gestorben, doch die Probleme hatten bereits angefangen. Die Bevölkerung der Ortschaft ging zurück und es gab nur wenige junge Familien. Unter uns gesagt, Pattinson, der Vikar, hatte in seinem letzten Jahr nicht mehr alle Tassen im Schrank. Man traf die Entscheidung, ihn nicht mehr zu ersetzen, sondern St. Barnabas an unsere Kirchengemeinde hier in Bamford anzuschließen. Das Gleiche passierte auch mit der Kirche in Westerfield. Und ich betreue jetzt die vereinigten Gemeinden. Was Lower Stovey angeht, so sind in den vergangenen fünf oder sechs Jahren ein paar neue Häuser dort gebaut worden, der größte Teil auf dem Gelände der alten Schule, die verkauft wurde. Für die Gemeinde hat sich dadurch nichts geändert. Ihr wurde das Rückgrat gebrochen, schon vor langer Zeit.« James Holland seufzte.

»Mrs. Aston ist Ende fünfzig, genau wie ihre Freundin und Kollegin, mit der sie sich die Arbeit teilt. Die beiden werden sicher nicht ewig weitermachen. Ich rechne damit, dass innerhalb der nächsten fünf oder sechs Jahre der große Knall kommt.«

»Ich fürchte, James, er ist bereits gekommen«, sagte Markby und stellte seinen Becher ab.

»Allerdings nicht auf die Weise, die Sie sich vielleicht vorgestellt haben. Eine Ihrer Kirchenvorsteherinnen, nicht Mrs. Aston, sondern die andere, Miss Hester Millar, ist tot.« James Holland starrte Markby in schockiertem Schweigen an. Nach einer Weile fragte er leise:

»Wie ist sie gestorben?« Markby erzählte es ihm.

»Zufällig ist es in der Kirche passiert. Ich bin nicht nur hergekommen, um Sie zu informieren, sondern auch, um Sie auszuhorchen.« Pater Holland rührte sich aus der tiefen Versunkenheit, in die er gefallen war, während Markby seine Geschichte erzählt hatte.

»Wegen Lower Stovey? Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel über die Ortschaft verraten, Alan. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass meine monatlichen Gottesdienste die einzigen Gelegenheiten sind, zu denen ich in Lower Stovey bin. Ich sehe überhaupt nichts von der Ortschaft. Ruth Aston könnte Ihnen viel mehr …« Er brach ab und schüttelte den Kopf.

»Aber nein, die arme Ruth ist im Augenblick bestimmt nicht in einem Zustand, wo sie Ihnen weiterhelfen könnte. Sie und Hester waren sehr alte Freundinnen. Nach dem Tod von Ruths Mann Gerald ist Hester bei Ruth eingezogen. Ich kenne Hester aus dieser Zeit. Sie war von der praktischen Sorte, sachlich und absolut nicht bösartig. Ich mochte sie, doch ich kann nicht sagen, dass ich sie besonders gut kannte. Hören Sie, Alan, Sie müssen mit Ruth sprechen, aber wenn es die Kirche betrifft, wäre es mir lieber, Sie würden sich zuerst an mich wenden. Was Ruth angeht, bezweifle ich, dass aus ihr gegenwärtig viele sinnvolle Informationen zu holen sind.«

»Es gibt da noch etwas, das ich Ihnen sagen sollte, ob Sie es Ruth Aston nun erzählen mögen oder nicht«, sagte Markby ein wenig verlegen.

»Es gibt Hinweise, dass sich jemand Zutritt zum Glockenturm der Kirche verschafft hat und, äh, dort zumindest bei einer Gelegenheit ein romantisches Stelldichein hatte.«

»Was?« James Holland richtete sich kerzengerade in seinem Sessel auf.

»Unzucht in der Kirche?«

»Es sieht jedenfalls danach aus. Im Glockenraum, um genau zu sein. Wir fanden eine Packung Kondome und einen Schlafsack dort oben.«

»Das reicht«, sagte James Holland grimmig.

»Wir werden noch einmal darüber nachdenken müssen, ob wir die Kirche weiterhin tagsüber offen stehen lassen. Es sieht so aus, als müssten wir sie ständig abgesperrt halten. Ich werde mit Ruth darüber sprechen, sobald … sobald sie über den anfänglichen Schock von Hesters Tod hinweg ist. Letzten Endes ist es meine Entscheidung, und nach allem, was Sie mir erzählen …«

»Ich hatte eigentlich gehofft«, unterbrach Markby ihn,

»dass Sie mir verraten können, ob es außer den Schlüsseln zu St. Barnabas, die Sie und die beiden Kirchenvorsteherinnen in Besitz haben, noch weitere gibt. Wer auch immer den Turm für seine Zwecke genutzt hat, besitzt einen Schlüssel, mit dem er die Tür aufsperren kann.« James Holland wurde bleich.

»Jemand hat einen Schlüssel? Wie kann das sein? Ich weiß nur von einem einzigen weiteren Satz, und den hat Harry Picton-Wilkes. Ich glaube kaum, dass er unzüchtige Dinge im Turm treibt.«

»Dürfte ich Sie dann vielleicht bitten, für mich herauszufinden, ob der Gentleman Reverend seine Schlüssel noch besitzt und ob sie für andere zugänglich sind? Vielleicht hängen sie in seiner Küche an einem Haken oder etwas in der Art?«

»Ja, das ist überhaupt kein Problem, mache ich. Ich muss es selbst ebenfalls wissen.« Holland sah verlegen drein.

»Wissen Sie zufällig, ob Hester Millar Verwandte hatte?«, wechselte Markby das Thema. Erneutes Kopfschütteln.

»Ich kann nur wiederholen, dass ich nichts – so gut wie nichts – über Hester weiß. Und was ich über Ruth weiß, habe ich durch ihre Verbindung zur Kirche und durch Gerald, ihren verstorbenen Ehemann, den ich flüchtig kannte. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, Alan, als Sie an Ruth zu verweisen, wenn Sie mehr über Hester Millars Hintergrund erfahren möchten.« Markby starrte durch die kleinen quadratischen Scheiben der französischen Fenster nach draußen auf die ungetrimmten Büsche und unkrautübersäten Beete. Was würde er nicht dafür geben, Hand an diesen Garten zu legen.

»Sie haben eben gesagt, das Rückgrat der Gemeinde von Lower Stovey wäre gebrochen. Meinten Sie damit die Abwanderung der Einwohner?« Er war sich bewusst, dass James Hollands intelligente Augen ihn musterten. Der Vikar nahm sich Zeit, bevor er antwortete. Schließlich sagte er:

»Wenn ich mich nicht irre, gab es vor über zwanzig Jahren eine Reihe sehr unglücklicher Ereignisse. Vor meiner Zeit.«

»Eine Serie von Vergewaltigungen«, sagte Markby.

»Wir haben den Täter nie gefasst.«

»Zu schade, wirklich, und nicht nur, weil solch ein Monster unter allen Umständen gefasst werden sollte. In einer kleinen Ortschaft wie Lower Stovey kann so etwas dazu führen, dass die Gemeinde zerfällt, und nichts auf der Welt vermag sie wieder zu kitten. Hatte die Polizei damals einen Verdächtigen? Einen Bewohner des Dorfes?«

»Wir hatten keinerlei Verdächtige, nein. Möglich, dass er aus dem Dorf kam, aber genauso gut möglich, dass er von auswärts war. Zwei der Vergewaltigungen ereigneten sich bei der alten Viehtrift. Vielleicht war er ein Tramp. Ein landstreichender Psychopath. Vielleicht jemand, der anderswo in Schwierigkeiten geraten war und sich abgesetzt hatte und unterwegs durch Lower Stovey kam? Wir wissen es bis heute nicht.«

»Und weil die Polizei den Täter niemals gefasst hat, blieb bei den Bewohnern von Lower Stovey Misstrauen gegen ihre Nachbarn«, sagte James.

»Das alte Vertrauen war zerstört, das Gefühl, sich aufeinander verlassen zu können. Das ist es, was Lower Stovey das Rückgrat gebrochen hat. Wahrscheinlich ist es auch die Ursache für Pattinsons geistigen Zustand. Die Dorfbewohner wurden nicht damit fertig, und der Vikar ebenfalls nicht.«

»Damals war ich zum ersten Mal dort draußen, im Zuge der damaligen Ermittlungen«, erzählte Markby.

»Ich hatte eine lange Unterhaltung mit Pattinson. Ich erinnere mich recht deutlich an ihn. Er machte einen altmodischen, sehr belesenen Eindruck. Damals war er jedenfalls ganz bestimmt noch nicht verrückt. Nicht ganz im Einklang mit der modernen Welt vielleicht, aber nicht verrückt.« Der Bart des Vikars bewegte sich und deutete an, dass er darunter eine ironische Grimasse schnitt.

»Ich wusste nicht, dass Sie damit zu tun hatten, Alan«, sagte er.

»Ich wollte nicht klingen, als würde ich der Polizei Versagen vorwerfen und ihr die Schuld am Kollaps von Lower Stovey geben.«

»Aber wir haben versagt«, sagte Markby.

»Und wenn wir versagen, geschehen solche Dinge. Gemeinschaften leiden. Ein nicht aufgeklärtes Verbrechen ist wie eine schwärende offene Wunde, die niemals heilt.«

»Und jetzt haben Sie einen Mord. Den Mord an Hester Millar«, sagte James leise.

»Ganz genau. Ich habe nicht vor, in Lower Stovey ein zweites Mal zu versagen.« In seiner Stimme schwang mehr mit als normale Entschlossenheit, und der Vikar runzelte die Stirn.

»Nehmen Sie die Sache nicht persönlich, Alan. Sie sind ein Profi, genau wie ich. Sie wissen, dass man manchmal nicht gewinnen kann, und wir können uns die Welt nicht zurechtlegen. Sie und ich, wir haben beide mit Fällen zu tun, die uns zutiefst bewegen. Wir sind menschliche Wesen und verspüren Schmerz, Ärger, Zorn, Empörung – aber wir können niemandem helfen, wenn wir uns davon überwältigen lassen.«

»Aber ich nehme es persönlich!«, platzte Markby hervor. Er errötete und fügte leiser hinzu:

»Entschuldigung. Ich weiß, Sie haben Recht. Es ist nur …« Er verstummte. James Holland nickte. Nach einigen Sekunden sagte er:

»Hat nicht irgendjemand vor kurzem erst irgendwelche Knochen in Stovey Woods gefunden? Ich hab in der Lokalzeitung etwas darüber gelesen.« Markbys Blick ging erneut nach draußen in den Garten.

»Ach ja, die Knochen. Ich frage mich, ob Hester Millar heute noch leben würde, wenn diese Knochen nicht gefunden worden wären.« Er hatte den Vikar zum dritten Mal im Verlauf der kurzen Unterhaltung schockiert.

»Sie glauben, es gibt eine Verbindung?«, fragte James Holland mit gerunzelter Stirn. Markby stemmte die Hände auf die Armlehnen und schob sich hoch.

»Wer weiß? Wahrscheinlich nicht. Ich hatte keinen Grund, so etwas zu sagen, und vielleicht hätte ich es besser nicht getan. Aber ich mag derartige Zufälle nicht, James.« Er lächelte traurig.

»Sie versuchen immer, das Beste in den Menschen zu sehen. Mein Problem ist, dass ich dazu neige, das Schlimmste zu sehen. Ich bin wie ein alter Seefahrer, dessen Karten übersät sind mit Markierungen von Stellen, wo Meerjungfrauen und Seeungeheuer gesichtet wurden. Ich bewege mich durch ein Meer, in dem es vor unbekannten und bekannten Gefahren nur so wimmelt. Ich sehe das Böse, James, ich habe ein Gespür dafür. Ich kann es förmlich riechen. Ich fange seine Schwingungen auf. Und es ist am Werk in Lower Stovey, kein Zweifel.«

Ruth Aston saß am Küchentisch in The Old Forge und sah, wie die Schatten länger wurden, während die Sonne unterging und den Himmel mit ihren rosafarbenen Fingern überzog. Alles in der Küche war ihr vertraut und hätte ihr Sicherheit geben müssen, doch sie spürte nur Leere und Schmerz im Anblick der Dinge. Hesters abgegriffene Kochbücher standen sauber geordnet in einem Regal. Ihre Küchenutensilien hingen an Haken darunter. In der Speisekammer stand ein halber Apfelkuchen, den Hester am Vortag zubereitet hatte und der heute zum Mittagessen hatte dienen sollen. Doch gegen Mittag war Hester bereits tot gewesen.

Die ganze Angelegenheit schien so unreal. Ruth schien in einer anderen Dimension, auf einer anderen Welt als alle anderen gefangen. Sie dachte immer wieder: Gleich geht die Tür auf, und Hester kommt herein. Doch die Tür wollte sich nicht öffnen, und wenn sie es irgendwann doch tat, würde es nicht Hester sein, die hindurchkam. Höchstwahrscheinlich würde es Dilys Twelvetrees sein. Am nächsten Tag war sie wieder mit Putzen an der Reihe. Ruth fragte sich, ob sie zu Old Billys Cottage gehen und eine Notiz unter der Tür hindurchschieben sollte, in der sie Dilys bat, den nächsten Tag ausfallen zu lassen. Sie wollte die Frau nicht dahaben. Sie wollte nicht, dass Dilys auf ihre gleichmütige Art durch das Haus stapfte, als wäre alles normal, als wäre überhaupt nichts passiert. Die Twelvetrees hatten kein Telefon, und die Aufgabe, die kurze Notiz niederzuschreiben und zum Haus der Twelvetrees zu gehen, erschien Ruth unüberwindlich schwer. Außerdem bestand die Möglichkeit, dass sie unterwegs jemandem begegnete, der über Hester reden wollte und das, was passiert war. Am schlimmsten jedoch war, dass sie das blauweiße Absperrband der Polizei sehen würde, das immer noch quer über den Kirchhof gespannt war. Die Kirche, die einen großen Teil von Ruths Kindheit bedeutete, genauso, wie sie einen großen Teil ihrer vergangenen Jahre hier in The Old Forge darstellte, war zum Tatort eines Verbrechens geworden, besudelt für alle Zeiten.

An diesem Punkt fiel Ruth mit einem schuldbewussten Stich Pater Holland in Bamford ein. St. Barnabas gehörte zu seiner Gemeinde. Irgendjemand musste ihm erzählen, was sich ereignet hatte. Es war Ruths Aufgabe als Kirchenvorsteherin, ihn zu informieren. Doch vielleicht hatte die Polizei sich bereits mit ihm in Verbindung gesetzt und ihm von der grausigen Entweihung berichtet, die sich zugetragen hatte? Sie wünschte, sie wüsste es. Sie hätte Markby fragen sollen oder jenen anderen Polizisten, Pearce. War vielleicht eine Art Reinigungsritual erforderlich, bevor die Kirche wieder als ein Ort des Gebets benutzt werden konnte? Würde sie, Ruth, je wieder im Stande sein, einen Fuß hineinzusetzen?

Nicht nur das Mittagessen war ausgefallen. Sie hatte den ganzen Tag seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, seit einer Ewigkeit, wie ihr schien. Sie wurde sich des nagenden Hungergefühls in ihrem Magen bewusst und stand auf, um Hesters Apfelkuchen aus dem Speiseschrank zu holen. Sie konnte ihn nicht wegwerfen. Hester würde sich furchtbar darüber aufregen. Andererseits verspürte sie kein Verlangen, den Kuchen zu essen. Doch es war das einzige Lebensmittel im Haus, das nicht zuerst aufgetaut werden musste. Selbst ein Sandwich erforderte Vorbereitungen, die Ruths Kräfte im Augenblick überstiegen. Es war eine Ironie, dass sie nichts im Haus hatte, das man einfach so nehmen und essen konnte, trotz einer überquellenden Tiefkühltruhe und einer Speisekammer voller Eingemachtem.

Sie schnitt ein kleines Stück vom Apfelkuchen und legte es auf einen Teller, doch nach zwei Bissen, die sie nur unter großen Mühen herunterbrachte, gab sie auf.

»Es tut mir Leid, Hester, es tut mir wirklich Leid«, sagte sie laut, dann stand sie auf, nahm ihren Teller mit dem halb verzehrten Stück und den restlichen Kuchen und ließ alles in eine Plastiktüte gleiten. Sie verschloss die Tüte, trug sie nach draußen und legte sie mit größter Vorsicht und Ehrfurcht in die Mülltonne vor dem Haus. Sie fühlte sich wie eine Götzendienerin, die ein Opfer auf einem Altar darbrachte.

Ruth kehrte ins Haus zurück und hatte kaum den Teller und die Kuchenplatte in den Geschirrspüler gestellt, als das Telefon läutete. Sie hatte vergessen, den Anrufbeantworter einzuschalten – sie musste rangehen. Möglich, dass es die Polizei war. Vorsichtig nahm Ruth den Hörer ab und meldete sich.

»Ja?«

»Ruth?«

Sie erkannte die Stimme als die von Pater James Holland und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Oh, James! Ich hatte überlegt, ob ich Sie anrufen soll. Haben Sie schon …« Ruth brach ab.

»Ja, ich habe davon gehört. Superintendent Markby war bei mir. Es tut mir so Leid, Ruth.« Die letzten Worte würde sie in den nächsten Wochen in einer Vielzahl von Formulierungen hören, mit unterschiedlich ausgeprägten Graden von Aufrichtigkeit und Mitgefühl. James meinte es zumindest ernst.

»Ich habe überlegt, wie es mit der Kirche weitergehen soll«, sagte sie.

»Ob sie neu geweiht werden muss oder so etwas.« Ihr wurde bewusst, dass es ihm vielleicht seltsam erscheinen würde, wenn sie in einer Zeit wie dieser über derartige Belanglosigkeiten nachdachte. Doch es war besser, als direkt über Hester zu reden oder über die furchtbare Tat, durch die Ruth ihrer Freundin beraubt worden war. Wahrscheinlich würde er sie verstehen. Sie glaubte, dass er trotz seines zotteligen Äußeren und der Begeisterung, mit der er auf seinem schweren Motorrad durch die Landschaft donnerte, ein sensibler Mann war. Er war auch ein guter Priester. Er rief sie an, weil sie ein trauerndes Mitglied seiner Gemeinde war, und nicht in ihrer Eigenschaft als Vorsteherin einer Kirche, die jemand mit einer so schlimmen Tat entweiht hatte.

»Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf, Ruth. Sind Sie allein zu Hause? Ich komme auf dem schnellsten Weg zu Ihnen.«

»Nein!« Sie fürchtete, ihre Stimme könnte zu scharf klingen.

»Danke sehr, James, aber es geht mir gut. Wirklich.« Sie stockte.

»Nein, eigentlich geht es mir überhaupt nicht gut, aber ich schaffe es. Sie wissen, was ich meine. Ich wäre heute Abend lieber allein.«

»Dann komme ich gleich morgen früh.« Seine Stimme klang kompetent und tröstend zugleich.

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Aktivitäten der Polizei, Ruth. Ich kümmere mich schon darum, wann immer es möglich ist. Sie sollen sich direkt an mich wenden, wenn sie Fragen wegen der Kirche haben. Trotzdem müssen Sie darauf gefasst sein, Fragen zu beantworten, fürchte ich. Die Polizei wird alles über Hester erfahren wollen, was Sie wissen.« Ruth versuchte zu antworten, doch außer einem unterdrückten Schluchzer kam kein Ton über ihre Lippen. Vorsichtig erkundigte sich James Holland:

»Hören Sie, ich mache mir große Sorgen wegen Ihnen, Ruth. Haben Sie etwas gegessen?«

»Ja«, log Ruth. Na ja, es war nicht völlig gelogen. Die beiden Bissen von Hesters Apfelkuchen lagen ihr schwer im Magen. Sie hegte den starken Verdacht, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie sich erbrechen würde.

»Nehmen Sie einen Schluck Brandy«, empfahl Reverend Holland. Sie versprach ihm, es zu tun – eine weitere Lüge –, und legte auf. Inzwischen war es beinahe dunkel, und sie schaltete eine Lampe ein, bevor sie zum Fenster ging, um die Vorhänge zu schließen. Die Church Lane draußen war schlecht beleuchtet, und doch schien es Ruth, als bewegte sich etwas drüben auf der anderen Straßenseite, gegenüber The Old Forge, in einer dunklen Nische zwischen zwei Gebäuden. Sie schrak zusammen. Es war nicht nur ihre überdrehte Vorstellung, so viel stand fest. Irgendetwas war dort draußen. Jemand beobachtete das Haus. Ein Polizeibeamter? Der Mörder, mit einem Messer in der Hand? Nein, die Gestalt hatte etwas Vertrautes. Ruths Herz machte einen Satz, als plötzlich Hoffnung in ihr aufkeimte. Sie tat etwas vollkommen Irrationales, dessentwegen sie sich hinterher zutiefst schämte. Sie rannte zur Vordertür, riss sie auf und rief:

»Hester?« Noch als der Name über ihre Lippen kam, wurde sie sich bewusst, wie töricht es war. Es gab keine Geister. Es war kein Geist, der zu ihr gekommen war. Sie riss sich zusammen.

»Wer ist da?«, rief sie.

»Wer ist das?« Die breite Gestalt bewegte sich in lautloser Entschlossenheit auf sie zu. Das Licht einer Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht, und Ruth erkannte Dilys Twelvetrees.

»Oh, Dilys!«, ächzte Ruth, halb erleichtert und halb bestürzt.

»Ich bin vorbeigekommen, um nachzusehen, ob es dir gut geht«, sagte Dilys. Ruth wurde bewusst, dass sie im hell erleuchteten Hauseingang stand, das Licht des Flurs im Rücken. Sie war weithin sichtbar. Unwillig trat sie zur Seite, um Dilys über die Schwelle zu lassen. Als Dilys an ihr vorbeitrat, sah Ruth, dass die Frau eine kleine Kasserolle aus Keramik bei sich trug.

»Ich hab ein wenig Stew mitgebracht«, sagte Dilys.

»Ich dachte mir nämlich, dass du wahrscheinlich noch nichts gegessen hast. Du musst bei Kräften bleiben.«

»Danke sehr«, antwortete Ruth schwach und streckte die Hände aus, um die Kasserolle zu nehmen.

»Ich hab das Haus von vorne beobachtet«, fuhr Dilys fort,

»weil ich nicht sicher war, ob du schon zu Bett gegangen warst. Nirgendwo hat Licht gebrannt. Aber dann hast du das Licht eingeschaltet. Ich bin nicht nach hinten gekommen, weil ich dich nicht erschrecken wollte, aber ich schätze, ich hab dich trotzdem ganz schön erschreckt, wie?«

»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Ruth und sinnierte, dass sie an diesem Abend eine Menge Lügen erzählte. Hatte Dilys ihren verzweifelten Ruf gehört? Ihren Schrei nach einer Freundin, die tot war und sie nicht mehr hören konnte?

»Dad hat gesagt, dass ich vorbeigehen und nach dir sehen soll. Er denkt viel an dich, das tut er. Immerhin bist du die Tochter vom alten Vikar und so.« Sie machte tss-tss.

»Hochwürden Pattinson hätte das alles überhaupt nicht gefallen. Ausgerechnet in seiner Kirche!«

»Niemandem von uns gefällt diese Sache!« Ruth brüllte fast. Sie brachte sich wieder unter Kontrolle und fügte leise hinzu:

»Es ist sehr freundlich von dir, Dilys, und von deinem Vater, dass ihr euch um mich sorgt. Sag ihm bitte meinen Dank, ja?« Dilys nickte.

»Ich bin dann morgen früh wieder da. Wie immer.« Ruth öffnete den Mund zum Widerspruch, doch dann verlor sie den Mut und sagte nur:

»Ja, Dilys. Wie immer.«

»Am besten schiebst du das Stew direkt in den Ofen.« Sie deutete auf die Kasserolle.

»Mache ich.« Ruth beendete die Serie abendlicher Lügen mit einer weiteren. Es fiel ihr von Mal zu Mal leichter. Dilys ging davon. Als Ruth sicher war, dass Dilys die Church Lane hinter sich gelassen hatte, kehrte sie in die Küche zurück, suchte eine weitere Plastiktüte und kippte das Stew hinein. Die schmutzigbraune Masse, durchsetzt mit gelben Karotten, floss zäh und roch stark nach Zwiebeln und Brühwürfeln. Ruth steckte die Plastiktüte in eine zweite und wickelte alles in Zeitungspapier ein. Sie fürchtete, beobachtet zu werden und dass jemand Dilys informieren könnte, deswegen schaltete sie sämtliche Lichter aus, bevor sie die Hintertür öffnete und nach draußen schlüpfte. Der Garten war in fahles silbernes Mondlicht getaucht. Das Feld dahinter war ein wässriger, glitzernder See. Nur Stovey Woods am Horizont bildete eine bedrohliche dunkle Masse. Ruth ging zur Mülltonne und schob das Päckchen mit dem Stew tief hinein, sodass es unter anderen Hausabfällen verborgen war. Die Tüte mit Hesters Apfelkuchen lag zuoberst und wirkte im Mondlicht verblüffend weiß. In einer Mischung von Abscheu und Angst schob Ruth auch diese Tüte tief unter den anderen Müll, sodass keine der beiden mehr zu sehen war und niemand es jemals erfuhr, nicht Dilys und auch nicht Hester. Dann kehrte Ruth ins Haus zurück und machte sich langsam fertig zum Schlafengehen, während sie überlegte, wie viele Lügen sie wohl noch erzählen würde, bevor diese elende Geschichte vorüber war.

KAPITEL 8

AM NÄCHSTEN MORGEN, einem Freitag, rief Meredith in ihrem Büro im Foreign Office an und erklärte, dass sie nicht zur Arbeit kommen würde.

»Bist du krank?«, erkundigte sich Lionel, der Kollege, der den Anruf entgegengenommen hatte, in seinem vertrauten, nikotinbeladenen Brummton.

»Nein. Ich bin eine wichtige Zeugin in einem Mordfall. Ich muss in der Nähe bleiben, für den Fall, dass die Polizei meine Aussage braucht.« Eine kurze Pause, dann:

»Irgendjemand, den du gekannt hast?« Meredith interpretierte die Frage dahingehend, dass das Opfer gemeint war. In der freien Wirtschaft wäre ihre Begründung für das Fernbleiben von der Arbeit wahrscheinlich mit mehr Skeptizismus, Schock, Aufregung, morbider Neugier und so weiter aufgenommen worden. Lionel hingegen, ein ergrauter Veteran mit einem rastlosen Leben in den Diensten der Regierung Ihrer Majestät, war abgehärtet gegen ungewöhnliche Begebenheiten und Ereignisse wie dieses. Seine erste Reaktion bestand darin, den Grad an Trost zu ermitteln, den Meredith nötig haben würde, gefolgt von einer mentalen Einschätzung der Dinge, die sie zu erledigen hatte, und schließlich, wie viel unausweichlicher Papierkram damit verbunden war.

»Ich kannte die Person nicht, nein. Ich war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Das ist Pech. Nimm dir so lange Zeit, wie du brauchst. Meld dich wieder, wenn etwas ist.« Mit einem etwas spitzbübischen Unterton erkundigte er sich:

»Brauchst du vielleicht einen guten Leumund?«

»Noch nicht«, antwortete Meredith.

»Aber das kann noch kommen, man weiß nie.« Gegen Ende des Tages begann sie sich zu wünschen, sie wäre nach London gefahren und wäre den Ermittlungen aus dem Weg gegangen. Sie hatte erwartet, dass sie Dave Pearce ihre Aussage geben würde, doch stattdessen fand sie sich in einem beengten Verhörzimmer wieder, zusammen mit einem Sergeant, den sie nur vage kannte. Steve Prescott war ein liebenswürdiger Riese von einem Mann, und er war unnötig häufig mit ihr durch ihre Aussage gegangen, jedenfalls erschien es Meredith so. Seine Erklärung lautete, dass ihr vielleicht noch etwas einfallen würde, was sie beim ersten Mal vergessen hatte. Schließlich war selbst er bereit anzunehmen, dass durch diese Methode nichts Neues mehr aus ihr herauszubringen war. Außerdem wurde die befragte Person zunehmend rebellisch. Er bat Meredith, ihre Unterschrift auf das ausgedruckte Vernehmungsprotokoll zu setzen, und dann durfte sie gehen. Sie war so begierig darauf, endlich nach draußen zu kommen, dass sie kaum Einwände erhob gegen die Art und Weise, wie Prescott einige ihrer Worte in eine Beamtensprache übertragen hatte, die er für seinen Geschmack als geeigneter empfand. Sie strich das Wort

»beobachtete« in

»Ich beobachtete die Gestalt einer Frau« und ersetzte es durch

»sah«, doch dabei beließ sie es. Wie auch immer sie es formulierte und welches Vokabular sie auch benutzte, sie hatte der grellen Realität von Hester Millars blutgetränktem Schal und ihren hellen, starren Augen nichts mehr hinzuzufügen. Sie meinte zu sehen, dass auch der Sergeant erleichtert war, als die Befragung endlich endete. Alan tauchte am frühen Abend vor ihrer Haustür auf und wirkte gleichermaßen fertig mit den Nerven. Beide sanken in gegenüberstehende (und nicht zueinander passende) Lehnsessel in Merediths winzigem Wohnzimmer.

»Das funktioniert nicht!«, sagte Meredith unvermittelt.

»Komm, wir gehen raus und essen irgendwo eine Kleinigkeit.«

»Wir haben keinen Tisch reserviert«, warf er im Tonfall eines Mannes ein, der endlich einen Platz gefunden hatte, wo er still und leise entspannen und ein Nickerchen halten konnte und alles andere als erfreut war über die Idee, aus seiner Ecke vertrieben zu werden.

»Freitags ist es nicht so voll wie samstags«, entgegnete Meredith.

»Außerdem ist es nicht mal sieben Uhr. Ich rufe kurz im Fisherman’s Rest an und reserviere uns einen Tisch.«

»Du bist nicht zu müde – äh, gestresst?«, fragte Alan kraftlos.

»Hör zu«, erwiderte sie.

»Es war eine sehr ermüdende und stressreiche Woche, okay? Ganz zu schweigen von heute. Wir müssen abschalten. Auf Abstand gehen. Wenn wir den ganzen Abend vor dem Fernseher hängen und dösen, wird es nur noch schlimmer.« Später, im Restaurant, kamen ihr ernste Zweifel, ob die Idee tatsächlich so gut war, wie sie ihr zu Anfang erschienen war. Es war offensichtlich, dass Alan mit den Gedanken noch immer bei dem Fall war. Sie für ihren Teil war ebenfalls außer Stande, die Erinnerung an die stille, zusammengesunkene Gestalt in der Kirche aus ihrem Kopf zu vertreiben, obwohl sie den ganzen Tag lang darüber gesprochen hatte, und obwohl sie gehofft hatte, das Ausgehen würde zumindest für den Abend die düsteren Gedanken vertreiben. Ringsum war die Luft schwer vom Geruch nach Essen und laut vom Lärm zahlreicher gedämpfter Unterhaltungen. Sie bekam allmählich Kopfschmerzen davon, und die Gerüche nach Essen, die sie normalerweise so belebend fand, erweckten Übelkeit in ihr. Sie spielte lustlos mit ihrem saumon en croûte und bemerkte, dass Alan mit seinem Steak au poivre auch nicht viel besser vorankam. Sie saßen im einstigen Schankraum eines Pubs. Doch wie die Speisekarte unmissverständlich deutlich machte, war das Fisherman’s Rest seit vielen Jahren kein gewöhnliches Pub mehr. Seit vielen Jahren hatte kein Fischer mehr den Fuß über die Schwelle gesetzt, weder zum Rasten noch um sich zu stärken. Auch kamen keine Einheimischen mehr, um hier ihr Pint zu trinken. Die meisten der Gäste an diesem Abend waren, so schätzte Meredith, einige Meilen gefahren, um hier zu essen, genau wie sie und Alan. Das Fisherman’s Rest war über die Grenzen der Gemeinde hinaus bekannt, sowohl für sein Essen als auch für die Lage. Sie waren schon mehrmals hier gewesen, und es gefiel beiden. Heute Abend jedoch funktionierte die übliche Magie des Lokals nicht. Das Restaurant lag oben am Flussufer mit einer herrlichen Aussicht über die Landschaft des Windrush Valley. Zu dieser Tageszeit war das gegenüberliegende Ufer bereits in Dunst gehüllt, der über die Wiesen kroch und seine sich windenden Tentakel über das Wasser sandte. Die Lichterkette entlang der Fassade des Restaurants spiegelte sich im sanft dahinfließenden Wasser. Das Gebäude selbst war wenigstens zweihundert Jahre alt und weiß gestrichen, und je mehr das Tageslicht verblasste, desto geheimnisvoller schien es in der Dämmerung zu leuchten. Im Innern war es gemütlich und warm und auf jede nur denkbare Weise einladend. Jeder der anderen Gäste verbrachte einen wunderbaren Abend. Nur Meredith und Alan saßen wortkarg vor ihrem exzellenten Dinner. Schließlich fragte Meredith:

»Was beschäftigt dich so sehr? Die Suche nach einem Haus oder der Mord an Hester Millar?« Er entschuldigte sich augenblicklich, wie sie es geahnt hatte, und weckte ein schlechtes Gewissen in ihr. Ihr eigener Beitrag zur Unterhaltung war nicht größer gewesen als seiner.

»Auf gewisse Weise keines von beiden«, sagte Alan. Er sah auf, bemerkte ihren Blick und legte Messer und Gabel beiseite.

»Ich sollte das nicht tun, aber ich kann nicht anders. Ich brüte über den Ermittlungen, die ich vor vielen Jahren in Lower Stovey durchgefühlt habe. Wir haben Freitagabend, und ich sollte das freie Wochenende genießen, zu dem mein illustrer Rang mir das Recht gibt. Ich habe immer versucht zu vermeiden, Arbeit mit in meine freie Zeit zu nehmen. Sie auch noch in meine freie Zeit mit dir zu schleppen ist unentschuldbar.« Meredith schob den Lachs von sich und legte die verschränkten Hände in den Schoß.

»Ich hätte dich nicht nach draußen schleppen sollen. Ich dachte, es würde uns auf andere Gedanken bringen. Aber ich brüte genau wie du. Ich kann nichts dafür, und es war dumm von mir zu glauben, wir könnten es einfach beiseite schieben. Hast du nicht Lust, mir von dem alten Fall zu erzählen? Ist es dieser Fall, bei dem du den Vater von Ruth befragt hast, Reverend Pattinson?«

»Das ist richtig. James Holland hat erzählt, dass Pattinson in den letzten Jahren seines Lebens übergeschnappt gewesen wäre, doch als ich ihn damals sah, war er hellwach und hat seine Schafe ziemlich vehement gegen meine Verdächtigungen in Schutz genommen.«

»Worum ging es bei diesem Fall? Wer waren die Verdächtigen?«

»Keiner wurde jemals angeklagt. Wir sind gar nicht erst so weit gekommen.« Und dann erzählte er ihr von dem Kartoffelmann.

»Eine hässliche Geschichte«, sagte Meredith.

»Und ziemlich unheimlich obendrein. Der Gedanke, dass er jeder dieser armen Frauen etwas gestohlen hat! Dass er es mit zu sich nach Hause genommen und sich daran geweidet hat! Das ist krank!« Sie schob sich das dichte braune Haar in einer Geste aus der Stirn, die Markby verriet, dass sie nachdachte.

»Ich wünschte, du hättest mir früher von alledem erzählt«, sagte sie.

»Es ist wohl kaum der geeignete Stoff für eine nette Unterhaltung. Du hast schon genügend andere Dinge, die dich beschäftigen.«

»Aber du trägst diese Geschichte seit zweiundzwanzig Jahren mit dir herum! Weißt du, Ruth hat eine Bemerkung gemacht, dass schlimme Dinge in Stovey Woods passieren, und ich denke, sie hat sich darauf bezogen. Aber es gibt keine Verbindung zu dem jetzigen Fall, sicherlich nicht, oder? Zweiundzwanzig Jahre sind eine lange, lange Zeit.«

»Eine Verbindung mit dem Tod von Hester Millar? Wahrscheinlich nicht, jedenfalls nicht direkt. Aber wer weiß das schon? Vielleicht gibt es eine Verbindung zu den Knochen, die Dr. Morgan beim Wandern in Stovey Woods gefunden hat? Das klingt jedenfalls wahrscheinlicher, wenn man es genau bedenkt. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen – es hängt alles von dem ab, was unsere Experten über die Knochen sagen, wie lange sie bereits dort gelegen haben, bevor der gute Doktor die Böschung hinuntergefallen ist und den Kopf in diesen Fuchsbau gesteckt hat.« Er zögerte.

»Ich mag keine Zufälle, weißt du? Das habe ich auch James Holland gesagt. Meines Wissens hat es in Lower Stovey keinerlei Zwischenfälle mehr gegeben, seit der Kartoffelmann vor zweiundzwanzig Jahren von einem Tag auf den anderen verschwunden ist, weder Verbrechen noch irgendwelche übersinnlichen Dinge. Eine lange Zeit, genau wie du sagst. Und jetzt, innerhalb von vierzehn Tagen, findet jemand in den Wäldern menschliche Überreste, und eine Einheimische, eine Frau mit makellosem Ruf, die allem Anschein nach keinen einzigen Feind auf der Welt hatte, wird erstochen in der Kirche aufgefunden. Hester hatte mit Sicherheit keine Verbindung zu dem Kartoffelmann. Sie hat damals noch nicht in Lower Stovey gelebt. Doch die Entdeckung der Knochen hat vielleicht jemand anderen in Lower Stovey in Angst und Schrecken versetzt. Jemanden, der etwas zu verbergen hat. Und das bringt die ganze Geschichte von damals wieder hoch und führt zu der unglückseligen Hester Millar. Auch wenn ich mir absolut nicht vorstellen kann«, fügte er trostlos hinzu,

»was das sein könnte, das sie entdeckt hat und das eine Bedrohung für jemand anderen darstellt. Trotzdem, auf irgendeine undurchschaubare Weise hängt alles zusammen.«

»Darüber habe ich ebenfalls nachgedacht«, gestand Meredith. Sie schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie fiel augenblicklich wieder nach vorn. Sie nahm beide Hände hoch und schob sich alle Haare nach hinten. Auf einer Seite blieben sie, wo sie waren, auf der anderen Seite fielen sie erneut nach vorn. Markby streckte die Hand über den Tisch und ergriff die ihre.

»Du spielst mit deinen Haaren. Das bedeutet, dass du dir schon eine Theorie ausgedacht hast«, sagte er.

»Nein. Aber ich habe über Hester Millar nachgedacht. Ich habe schließlich ihre Leiche gefunden.« Er legte die Stirn in Falten.

»Es war sicher ein furchtbarer Schock für dich. Ich hätte nicht anfangen sollen, von Lower Stovey zu reden.« Er seufzte.

»Tut mir Leid. Das Ausgehen heute Abend ist ein ziemlicher Schlag ins Wasser, wie?«

»Es war meine Idee«, sagte sie.

»Ich dachte, es würde uns auf andere Gedanken bringen. Aber das tut es offensichtlich nicht.«

»Genau das meine ich. Du versuchst, dich von dem abzulenken, was du gesehen hast. Das ist normal, und ich hätte es wissen müssen.« Er ließ ihre Hand los, nachdem er sie kurz gedrückt hatte, und fügte ironisch hinzu:

»Die Sache ist die – rein persönlich würde ich dir gerne helfen, es zu vergessen. Aber beruflich gesehen ist es das Letzte, was ich möchte. Dass du dieses Bild verdrängst, meine ich. Verstehst du, du bist meine Zeugin. Du hast die Tote gefunden.« Langsam, wie jemand, der ein mentales Puzzle auslegt, sagte Meredith:

»Natürlich habe ich über Hester nachgedacht, auch wenn ich bis jetzt keine Theorie entwickelt habe – tut mir Leid, dich zu enttäuschen. Es liegt daran, dass ich nichts habe, womit ich arbeiten könnte. Ich kannte Hester nicht, auch wenn ich von ihrer Existenz wusste, weil Ruth sie mir gegenüber erwähnt hat. Als ich sie fand – als ich ihre Leiche dort sah, wusste ich zuerst nicht, wer sie war. Muriel Scott hat es mir erzählt. Irgendetwas an Muriels Reaktion war wirklich eigenartig. Sie schien …«, Meredith stockte.

»Ja?« Alan beobachtete sie aufmerksam.

»Sie schien überrascht, allerdings nicht wirklich geschockt. Tatsächlich war ihr Verhalten, bevor sie wusste, wer die Tote war, ziemlich brüsk. Total eigenartig, wenn du mich fragst. Ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Von dem Augenblick an, als ich ihr sagte, dass ich die Polizei gerufen hätte, schien sie nicht mehr den geringsten Zweifel daran zu haben, dass es sich um eine, wie du es nennen würdest, verdächtige Todesursache handelt. Sie schien nicht eine Sekunde zu denken, dass es vielleicht ein Herzinfarkt gewesen sein könnte oder ein Brocken Putz, der von der Decke gefallen war und sie erschlagen hatte. Dann, als sie sah, wer die Tote war, sagte sie nur: ›Das ist niemand, mit dem ich gerechnet hätte.‹ Ich frage mich dauernd, ob es jemanden gibt, dessen Tod sie nicht überrascht hätte. Ganz besonders finde ich es eigenartig, weil Hester, von allen Bewohnern von Lower Stovey, regelmäßig in der Kirche anzutreffen war und Muriel nicht überrascht hätte sein dürfen, sie dort anzutreffen – lebendig, meine ich natürlich. Es war nicht die Tatsache, dass Hester tot war, sondern die Tatsache, dass Hester tot war, die sie zu überraschen schien. Es war die Betonung in ihrer Bemerkung. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich verstehe. Es ist eine spannende Frage, das gebe ich zu. Allerdings sind Menschen im Schock durchaus zu derart merkwürdigen, manchmal sogar zusammenhanglosen Aussagen fähig. Was auch immer du sagst, der Anblick der erstochenen Hester Millar in der Kirche von St. Barnabas hat offensichtlich ausgereicht, um selbst die ehrenwerte Mrs. Muriel Scott bis ins Mark zu erschüttern.«

»Die arme Ruth Aston war natürlich total entsetzt. Sie war am Boden zerstört«, fuhr Meredith fort.

»Aber was mich wirklich stört an dieser Geschichte ist ein weiteres, möglicherweise triviales Detail. Ich frage mich immer wieder, was Hester in der Kirche gemacht hat, als sie angegriffen wurde. Ich meine …«, fügte sie hastig hinzu,

»… ich weiß durchaus, dass sie zusammen mit Ruth Kirchenvorsteherin war. Ich nehme an, dass sie die Kirche aufschließen wollte. Aber meine Gedanken gehen weiter. Ich frage mich, womit sie im Augenblick des Angriffs tatsächlich beschäftigt war. Verstehst du, nach der Lage zu urteilen, in der sie gefunden wurde, hat sie auf einer Kirchenbank gekniet und gebetet, als der Angreifer sie erstach.« Alan lächelte schwach.

»Das machen Menschen nun mal, wenn sie in eine Kirche gehen.«

»Ja, sicher, und wahrscheinlich hat Hester genau das Gleiche gemacht wie immer, als sie die Kirche besuchte. Trotzdem wäre es vielleicht nicht falsch, Ruth zu fragen, ob Hester sich für gewöhnlich einige Minuten zum Gebet hingekniet hat, wenn sie zur Kirche ging. Wir wissen, warum Ruth Kirchenvorsteherin ist. Ihr Vater war der letzte Vikar der Gemeinde. Das bedeutet ihr eine Menge. Doch es gibt – gab – keine persönliche Assoziation für Hester. Die Frage lautet also, war sie ein besonders religiöser Mensch? Es sieht nach außen hin so aus, als wäre sie Kirchenvorsteherin geworden, weil Ruth es ebenfalls war und weil es für die beiden bequem gewesen ist, ihre Pflicht zu teilen und ein Auge auf die Kirche zu haben. Ich frage mich eben nur, verstehst du, ob sie im Gebet niedergekniet hat, weil sie Sorgen hatte und sie nicht wusste, was sie tun sollte. Sie suchte möglicherweise Rat und Gottes Führung. Die andere Sache, die mir aufgefallen ist – und dir inzwischen wahrscheinlich ebenfalls –, wer auch immer sich an Hester herangeschlichen hat, um sie anzugreifen, muss entweder verflixt leise gewesen sein, sodass Hester ihn nicht rechtzeitig bemerkt hat, um aufzublicken und zu flüchten, oder es war jemand, den Hester kannte und von dem sie glaubte, seine Gegenwart bedeutete keine Gefahr für sie.« Alan nickte.

»Der Gedanke ist mir in der Tat bereits gekommen, und wenn es aus keinem anderen Grund ist als der Tatsache, dass Mörder und Opfer fast immer miteinander bekannt sind. Warum sollte man jemanden töten, der einem nichts bedeutet? Es gäbe überhaupt kein Motiv. Es sei denn, der Mörder ist betrunken, steht unter dem Einfluss von Drogen oder handelt im Affekt – in diesen Fällen könnte jedermann angegriffen werden, ohne dass ein Motiv existiert. Derartige Fälle sind höchst selten. Die Gefahr geht meist von denen aus, die uns nahe stehen und die wir lieben, nicht von Fremden. Und niemand …«, Markby grinste trocken,

»… niemand hat bisher Andeutungen gemacht, dass sich in letzter Zeit Fremde in Lower Stovey herumgetrieben hätten – mit Ausnahme von dir und mir natürlich.«

»Lionel hat mich gefragt, ob ich einen Leumund benötige«, erzählte Meredith ihm.

»Vielleicht bitte ich ihn lieber, sich für mich zu verbürgen.« Markby grinste.

»Oh. Ich verbürge mich für dich, keine Sorge!« Die Kellnerin erschien, um ihre Teller abzuräumen. Sie war sehr jung, mit einer frischen Gesichtsfarbe, und sie war hübsch trotz der Zahnspangen. Wahrscheinlich eine College-Studentin, die sich abends Geld verdiente. Sie blickte besorgt auf die übrig gebliebenen Reste von Markbys und Merediths Essen.

»Hat es Ihnen nicht geschmeckt?«, fragte sie vorsichtig. Beide versicherten ihr unisono, dass das Essen ausgezeichnet gewesen wäre. Sie schien nicht wirklich überzeugt, doch sie fragte freundlich:

»Möchten Sie vielleicht einen Nachtisch vom Dessertwagen?« Sie wechselten Blicke, und Meredith schüttelte den Kopf.

»Nein, danke sehr«, sagte Alan zur Kellnerin.

»Wir nehmen nur Kaffee.« Als das Mädchen gegangen war, sagte Meredith:

»Ich weiß, du möchtest, dass ich mich genau an jede Einzelheit erinnere. Ich habe wirklich versucht, mich an alles zu erinnern, was ich gesehen habe. Merkwürdig ist nur, dass ich genauso sehr an Ruth denken muss wie an Hester Millar. Ich dachte, ich fahre vielleicht morgen irgendwann raus nach Lower Stovey und besuche sie. Bestimmt kann sie Unterstützung gebrauchen. Ich nehme nicht an, dass sie in diesem Dorf viele Freunde hat. Es sei denn, man zählt Muriel Scott dazu, die, wie ich mir denken kann, in einer Zeit wie dieser ein zweischneidiger Segen ist. Sie meint es gut, weißt du, aber sie ist unbeholfen.«

»Und ich auf meine verschlagene Polizistenart hätte nichts dagegen, wenn du dich ein wenig mit ihr unterhalten würdest. Vielleicht vertraut sie sich dir an und redet mit dir.« Der Kaffee kam, und sie unterbrachen ihre Unterhaltung. Als Meredith schließlich wieder anfing zu reden, fragte sie in Anlehnung an seine letzte Bemerkung:

»Vielleicht redet sie mit mir? Was soll sie mir deiner Meinung nach anvertrauen?« Er zuckte die Schultern, während er seinen Kaffee umrührte.

»Ich weiß es nicht. Nichts. Irgendwas. Irgendeine Kleinigkeit.«

»Ich möchte sie aber nicht grillen. Sie hat sicher schon genug davon gehabt.«

»Ich denke mir, dass Dave Pearce Ginny Holding heute nach Lower Stovey geschickt hat, um Ruths Aussage aufzunehmen. Ginny Holding ist ganz gut mit angeschlagenen Zeuginnen. Sie grillt die Leute nicht. Jede Menge Mitgefühl und so weiter.« Er zögerte.

»Ich sage Dave, dass du Ruth besuchen willst. Es ist sein Fall, weißt du?«

»Sicher.« Mit der ihr eigenen Zuversicht fügte Meredith hinzu:

»Ich habe nicht vor, für die Polizei irgendwelche Kastanien aus dem Feuer zu ziehen. Ich werde Ruth nur besuchen, um ihr meine Schulter zum Ausweinen anzubieten, für den Fall, dass sie eine sucht. Ich spiele nicht den … den Maulwurf.«

»Natürlich nicht«, sagte er beschwichtigend.

»Aber manchmal erzählen einem die Menschen mehr, wenn man ihnen keine Fragen stellt – und wenn man nicht von der Polizei kommt.« Unerwartet kicherte er.

»Außerdem sind Maulwürfe scheue, zurückgezogene Tiere. Ganz und gar nicht dein Stil.« Er schob seine leere Tasse von sich und winkte der Kellnerin, die Rechnung zu bringen.

Draußen war es inzwischen beinahe dunkel, doch der Leinpfad entlang dem Fluss unterhalb des Fisherman’s Rest war erleuchtet von Lampen in den Bäumen, die den Parkplatz des Lokals säumten.

Markby streckte die Hand aus. Meredith nahm sie, und gemeinsam spazierten sie über den romantischen, stillen Weg. Hier war die moderne Welt mit ihrer Geschäftigkeit und ihren Problemen weit weg. Das Zwielicht war eine Wohltat für das Auge, und die Geräusche der Nacht schmeichelten ihren Ohren. Zu ihrer Linken plätscherte der Fluss leise dahin, und kleine Wellen schwappten an das Ufer, das erhöht worden war, um das Fisherman’s Rest vor Überschwemmungen zu schützen. Ein schwarzer Vogel flatterte aus den Bäumen auf und segelte über den Fluss und das Farmland dahinter. Der Verkehr auf der Hauptstraße zu ihrer Rechten kam in Intervallen, unsichtbar mit Ausnahme der Scheinwerferstrahlen in den Bäumen über ihren Köpfen.

»Ich habe das Gefühl«, sagte Alan,

»als wäre unsere Suche nach einem Haus irgendwie verhext. Wir können uns nichts ansehen, ohne dass wir irgendwie in etwas hineingezogen werden.«

»Ich habe Hesters Leiche nicht mit Absicht gefunden!« Sie seufzte.

»Vielleicht ist die ganze Sache wirklich verhext. Vielleicht bin ich verhext.«

»Hey, hey, lass den Kopf nicht hängen! Wir finden schon irgendwo ein Haus, auch wenn ich irgendwie nicht mehr glaube, dass es in Lower Stovey sein wird.«

»Gütiger Gott, nein, Alan, ganz bestimmt nicht. Das Dorf ist mir unheimlich! Selbst wenn es nicht so wäre, dieses Haus, dieses alte Vikariat, ist viel zu groß für uns. Es ist mir egal, was Juliet dazu sagt.«

»Juliet?«

Verdammt!, dachte Meredith. Sie hatte ihm noch gar nicht von ihrem Treffen mit Juliet Painter erzählt.

»Ich hab sie in London getroffen. Wir waren zusammen essen. Sie hat mich gefragt, was unsere Suche nach einem Haus macht, schließlich ist sie selbst in diesem Geschäft tätig.«

»Aber sie ist keine Immobilienmaklerin«, sagte Alan.

»Definitiv nicht, nein. Sie hasst es, wenn man sie so nennt. Sie trifft sich übrigens immer noch regelmäßig mit Superintendent Minchin.«

»Ich hoffe sehr, dass sie Doug Minchin inzwischen dazu überreden konnte, geschmackvollere Hemden zu tragen.«

»Sie trägt übrigens jetzt Kontaktlinsen. Keine Brille mehr. Wegen Doug, könnte ich mir denken.«

»Was wir nicht alles für die Liebe tun. Du hast ihr von dem Haus erzählt, nehme ich an?«

»Ich hab sie nach ihrer Meinung gefragt. Sie war ganz begeistert von der Idee, den Dachboden auszubauen und aus zwei der Zimmer separate Arbeitszimmer zu machen. So etwas würden ihre Klienten jedenfalls machen. Aber angesichts der Tatsache, dass ihre Klienten fast ausnahmslos Ölscheichs oder Pop-Millionäre sind, ist es nicht verwunderlich, dass sie so denkt.«

»Meine Güte!«, sagte Alan. Meredith lachte.

»Na ja, du kennst ja Juliet.« Sie machten kehrt und spazierten zum Parkplatz zurück. Während Meredith sich anschnallte, sagte sie:

»Ich weiß, dass Hester Millar damals nicht in Lower Stovey gelebt hat, als euer Kartoffelmann aktiv war. Aber Ruths Familie hat dort gewohnt, und ich stelle mir vor, dass sie Ruth besucht hat, selbst wenn sie zu dieser Zeit nicht dort gelebt hat. Und ich nehme an, es ist auch möglich, dass Muriel Scott in der Gegend gelebt hat.« Markby schaltete die Zündung ein.

»Es ist jedenfalls etwas, das wir im Gedächtnis behalten sollten. Aber nicht mehr heute Abend. Wir haben diese Geschichte schon lange genug durchgekaut. Wie heißt es so schön – zu dir oder zu mir?«

»Zu dir«, sagte sie. Ein feiner Nieselregen fiel, als Meredith am Samstagnachmittag nach Lower Stovey zurückkehrte. Die Beamten der Spurensicherung schienen mit ihrer Arbeit in der Kirche fertig zu sein. Draußen standen keine Fahrzeuge mehr, und kein uniformierter Constable bewachte den Eingang zum Kirchhof. Das blauweiße Absperrband lag achtlos am Boden. Die Tür zur Kirche war abgesperrt. Meredith reckte den Hals und starrte nach oben zum Turm, doch selbst die Dohlen suchten Schutz vor dem Regen. Meredith ging zur Seite des Gebäudes. Hoch oben unter dem Dach starrte der Grüne Mann auf sein früheres Reich hinaus, Stovey Woods. Wasser tropfte an den Grabmälern des Friedhofs herab und sammelte sich in den Fugen und Vertiefungen der gehauenen Engel und verzierten Urnen. Meredith kehrte zum Wagen zurück. Auf der anderen Straßenseite stand Norman, der Wirt des Fitzroy Arms, auf der Straße vor seinem Pub und unterhielt sich mit einem jungen Mann im Regenmantel, der ein offenes Notizbuch hielt. Die Presse war in Lower Stovey eingetroffen. Während Meredith langsam davonfuhr, hob Norman den Blick und sah sie in ihrem Wagen. Sie winkte ihm grüßend zu, doch sein blasses Gesicht blieb ausdruckslos, und er verriet mit keiner Regung, dass er sie erkannt hatte. Nichtsdestotrotz war Meredith sicher, dass er sie beobachtet hatte, als sie über den Friedhof gegangen war und die Kirche umrandet hatte. Wahrscheinlich dachte er, dass sie sich einmischte. Wahrscheinlich, so dachte sie ironisch, machte er sie auf gewisse Weise für das verantwortlich, was passiert war. Sie fuhr weiter und bog in die Church Lane ein. Dort stand eine junge Frau und klopfte energisch an die Tür eines Cottages. Als niemand öffnete, ging sie zum nächsten Haus. Die Bewohner hatten klugerweise die Köpfe eingezogen. Beim Old Forge brannte trotz der frühen Stunde im Wohnzimmer ein Licht. Meredith stieg aus dem Wagen und klopfte an der Tür. Ruths Gesicht tauchte hinter einem Fenster auf und verschwand wieder. Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

»Kommen Sie herein, rasch«, bettelte Ruth.

»Oder diese schreckliche Frau sieht uns!« Meredith schlüpfte gehorsam durch den schmalen Türspalt ins Innere, und Ruth sperrte hinter ihr augenblicklich wieder ab.

»Sie meinen diese Reporterin? Die von Tür zu Tür geht und überall klopft?«

»Ja. Sie war schon einmal hier, und ich hab getan, als wäre ich nicht zu Hause. Aber sie weiß jetzt, dass ich da bin, weil sie gesehen hat, wie Sie angekommen sind. Na ja, ich hatte sowieso das Licht brennen, weil es heute Nachmittag so trüb ist draußen.« Ruth führte Meredith ins Wohnzimmer, während sie redete. Es war ein behaglich eingerichteter Raum, fast ein Paradebeispiel für ein Zimmer dieser Art mit den schwarz lackierten Eichenbalken und dem gusseisernen Kamin, in dem Holzscheite prasselten und knisterten und wohltuende Wärme aussandten.

»Sie finden es wahrscheinlich merkwürdig«, sagte Ruth,

»dass ich um diese Jahreszeit ein Feuer brennen habe. Ich wollte es ein wenig gemütlicher haben, und außerdem war Dilys Twelvetrees heute Morgen wieder da, was ich wirklich nicht gebraucht habe. Sie kommt samstags normalerweise nie. Ich schätze, sie versucht, sich ein wenig um mich zu kümmern, und ich sollte dankbar sein. Indem ich sie gebeten habe, das Feuer anzumachen, hatte sie wenigstens etwas zu tun und musste nicht mehr ständig hinter mir hertrampeln und fragen, was ich wegen Hesters Beerdigung plane, ausgerechnet! Sie will entweder einen Raum bei Norman im Pub mieten oder Schinkensandwichs hier bei mir zu Hause reichen. Ich wusste gar nicht, dass Norman einen Raum für so etwas hat. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie es dort aussieht. Abgesehen davon, wen könnte ich nach der Beerdigung schon zum Leichenschmaus einladen? Es gibt nur mich und James, der den Trauergottesdienst hält, und ich weiß nicht mal, ob er in der Kirche stattfindet. Ich meine, wie kann man einen Trauergottesdienst für jemanden in einer Kirche abhalten, der ausgerechnet in dieser Kirche ermordet wurde …?« Meredith streichelte ihr tröstend über den Arm.

»Machen Sie sich deswegen jetzt keine Gedanken. Dilys meint es sicherlich nur gut, ganz bestimmt. Und es gibt wahrscheinlich mehr Leute, die zu Hesters Beerdigung kommen, als Sie im Augenblick glauben. Die Bewohner des Dorfes wollen ihren Respekt zeigen. Auch die Polizei schickt für gewöhnlich jemanden vorbei in einem Fall wie diesem. Alan und ich werden kommen. James kann den Trauergottesdienst auch in der Bamforder Kirche halten. Haben sie – ich meine die Polizei – haben sie bereits angedeutet, wann sie den Leichnam freigeben?«

»Nein, noch nicht. Ich denke nicht gerne darüber nach, wie Hester beim Leichenbeschauer liegt, aber ich schätze offen gestanden, dass ich im Augenblick auch nicht über die Beerdigung nachdenken kann, geschweige denn über Dilys’ Schinkensandwichs.« Mit grimmigem Humor fügte sie hinzu:

»Jede Wette, dass es richtige alte Fußabtreter sein werden. Mit grauenvollen selbst gemachten Mixedpickles, ganz bestimmt, so zäh, dass sie einem die Füllungen aus den Zähnen ziehen! Na ja, ich hab sie jedenfalls sofort nach Hause geschickt, nachdem sie das Feuer angemacht hat. Wie Sie sagen, sie will nur behilflich sein, mehr nicht. Ich sollte ihr wahrscheinlich danken für ihre Unterstützung. Ich hätte nie geglaubt, dass der Tag kommen würde, an dem ich mich in der Stunde meiner Not an sie wende!« Ruth rieb die blassen Hände aneinander.

»Irgendwie fühle ich mich immer noch kalt.«

»Es ist der Schock«, sagte Meredith.

»Sie sollten viel Heißes trinken.«

»Ich mache uns gleich einen Tee«, sagte Ruth, zu Merediths Verlegenheit in einem Ton, als hätte Meredith eine versteckte Andeutung gemacht.

»Nehmen Sie doch so lange Platz.«

»Ich bin eigentlich nur vorbeigekommen, um zu sehen, wie es Ihnen geht«, sagte Meredith.

»Ich fahre auch gleich wieder, wenn Sie nicht mögen, dass ich da bin.«

»Aber nein, ich möchte, dass Sie bleiben! Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann. Hier im Dorf gibt es niemanden, mit Ausnahme von Muriel, und die Arme klammert so verzweifelt. Sie gehört zu jener Sorte Mensch, die einem sagt, dass man die Socken hochziehen soll. Sie hat es zwar noch nicht zu mir gesagt, aber ich habe das Gefühl, als wäre es jeden Augenblick so weit.« Ruth ließ sich in eine Ecke ihres chintzbezogenen Sofas fallen.

»Abgesehen davon würde ich Roger heute nicht ertragen.«

»Ich habe Roger bis jetzt noch nicht kennen gelernt.«

»Dieser grässliche Hund!«, sagte Ruth ohne Bosheit.

»Er ist eine Plage! Muriel liebt ihn. Ich mag Hunde normalerweise auch, aber nur, wenn sie sich benehmen und gut erzogen sind. Meine persönliche Meinung über Roger lautet, dass er völlig übergeschnappt ist. Ein übergeschnappter Hund!« Sie seufzte.

»Vielleicht schaffe ich mir ja jetzt selbst einen Hund an, der Gesellschaft wegen. Meine Eltern hatten auch immer einen. Einen Labrador.«

»Sie sollten keine voreiligen Entscheidungen treffen«, empfahl ihr Meredith.

»Lassen Sie sich Zeit.«

»Zeit ist alles, was ich jetzt noch habe, nicht wahr? Zeit im Überfluss, wie es so schön heißt. Ich schätze, ich fange an, Teppiche zu knüpfen oder so was. Nicht, dass ich geschickt wäre in solchen Dingen. Vermutlich muss ich auch noch eine Weile als Kirchenvorsteherin arbeiten, weil sich sonst niemand für diese Aufgabe findet. Aber im Augenblick kann ich nicht in die Nähe dieser Kirche gehen. Ich habe es auch James Holland gesagt. Er meint, ich solle mir deswegen keine Gedanken machen.« Ruth winkte abschätzig.

»Wenn ich richtig informiert bin, war die Polizei gestern wegen Ihrer Aussage bei Ihnen?«

»O ja, eine nette junge Frau kam gestern Morgen vorbei. Ich konnte keine ihrer Fragen beantworten. Hester und ich haben – hatten – keinerlei Feinde. Wir waren nicht in irgendwelche Streitigkeiten verwickelt. Meines Wissens hat sich niemand in der Kirche herumgetrieben, und es gibt nichts in unserem Gotteshaus, das wert wäre, gestohlen zu werden. Die Polizistin hat immer wieder diesbezügliche Fragen gestellt. Es scheint, als wären einsame Kirchen ein bevorzugtes Ziel irgendwelcher skrupellosen Leute, die Statuen herausbrechen und Bilder und dekorierte Paneele mitnehmen. Sie verkaufen die Sachen über irgendwelche dunklen Kanäle im Antiquitätenmarkt mit gefälschten Herkunftsdokumenten. Die Beamtin wollte wissen, ob ich es für möglich halte, dass Hester einen Dieb gestört hat. Aber ich habe ihr gesagt, dass sämtliche Messingsachen, die Altarbestecke, die Kerzenständer, das Chorpult mit der Bibel darauf und so weiter nach dem Tod meines Vaters entfernt und in die Diözese gebracht wurden, wo sie vor Dieben sicher sind. Wenn James Holland aus Bamford herkommt, um die Messe zu lesen, bringt er ein Altarkreuz und Kerzenständer mit. Die restlichen Sachen, Monumente und alles Weitere, sind aus massivem Marmor und Stein und an den Wänden oder am Boden verankert. Außerdem hat Hester auf einer Bank gekniet. Das hätte sie bestimmt nicht, wenn sie jemanden aufgeschreckt hätte. Sie hätte nicht einmal dann auf der Bank gekniet, wenn ein Fremder die Kirche betreten hätte und herumgewandert wäre, um die Bildhauereien zu betrachten. Wir haben ganz routinemäßig immer auf jeden geachtet, der die Kirche betrat, wenn wir dort waren. Natürlich wissen wir nicht, was die Leute gemacht haben, wenn wir nicht dort waren. Aber wir hatten nie irgendwelchen Ärger.«

»Nein«, sagte Meredith.

»Und Hester hatte wohl auch an diesem Tag keinen Ärger, wenn sie auf der Bank gekniet hat, um zu beten, da haben Sie ganz Recht.« Sie fragte sich, ob Ruth vielleicht bereits der Gedanke gekommen war, dass der Mörder und Hester sich gekannt hatten. Offensichtlich nicht. Sie stellte die Frage, von der sie Alan erzählt hatte und die ihr ständig durch den Kopf ging.

»Hat Hester regelmäßig gebetet, wenn sie in die Kirche ging?« Ruth hob die Augenbrauen und zuckte die Schultern.

»Nicht, wenn wir zusammen dort waren, um sauber zu machen. Vielleicht hat sie es gemacht, wenn sie alleine war. Ich weiß es nicht.«

»War Hester religiös?«

»Sie war praktizierende Anglikanerin, wenn Sie das meinen.« Ruth kehrte zum ersten Thema zurück.

»Die Beamtin wollte immer wieder wissen, welche Pläne Hester für den Morgen gehabt hat. Ich konnte ihr nur sagen, dass sie ein paar Erledigungen machen wollte, einschließlich dem Aufschließen der Kirche. Allerdings …« Ruth atmete tief durch.

»Bis jetzt hat sich niemand gemeldet und gesagt, dass er sie im Dorf gesehen hat. Niemand hat gesehen, wie sie die Kirche aufgeschlossen hat. Niemand hat sie sonst irgendwo beobachtet. Ich fange allmählich an mich zu fragen, ob die Polizei mich verdächtigt.«

»Selbstverständlich nicht!«, rief Meredith erschrocken.

»Die Polizei hat bis jetzt noch überhaupt keinen Verdächtigen! Sie ist noch ganz am Anfang ihrer Ermittlungen, und außerdem – warum sollte man Sie verdächtigen?«

»Weil ich offensichtlich die letzte Person bin, die Hester lebend gesehen hat. Weil ich die einzige bin, die im Stande ist, zu sagen, was Hester an diesem Morgen tun wollte, und weil ich kein Alibi habe. Weil die arme Hester mit niemandem im Dorf zu tun hatte. Weil sie keine Freunde in Lower Stovey hatte.« Alans Worte, dass die Gefahr in der Regel von unseren Nächsten und Lieben ausgeht und nicht von Fremden, echoten unbehaglich durch Merediths Gedanken.

»Was die Polizei auf jeden Fall tun wird«, sagte Meredith,

»ist, Hesters Vergangenheit zu untersuchen. Der Mord an ihr könnte mit etwas zu tun haben, das vor vielen Jahren geschehen ist, lange bevor sie zu Ihnen gezogen ist.« Das Resultat ihrer Worte war verblüffend. Sämtliche Farbe wich aus Ruths Gesicht.

»Das wird sie tun? So weit geht die Polizei zurück?«, flüsterte sie.

»Weit genug jedenfalls, schätze ich. Warum? Gibt es etwas in Hesters Vergangenheit?«, fügte sie sanft hinzu.

»Nein, überhaupt nichts!« Ruths Stimme klang plötzlich halsstarrig und entschieden.

»Absolut nichts! Hester hat keine ›Vergangenheit‹! Sie hat jahrelang unterrichtet, bis sie pensioniert wurde, und dann ist sie zu mir gezogen.«

»Sie hatte auch keine Familie, nehme ich an, mit Ausnahme von Ihnen?«

»Ich habe das schon Ihrem Freund gesagt, Superintendent Markby, und ich habe der Beamtin am Freitagmorgen das Gleiche erzählt. Hester hatte niemanden außer mir.« Die Unterhaltung wurde von einem energischen Klopfen an der Tür unterbrochen.

»Das wird diese Frau sein!«, flüsterte Ruth.

»Ignorieren Sie es einfach.« Es klopfte erneut.

»Lassen Sie mich zur Tür gehen«, bot Meredith an.

»Ich wimmele sie ab.« Sie erhob sich und ging, um die Haustür einen Spaltbreit zu öffnen. Die junge Frau, die Meredith zuvor an anderen Türen klopfen gesehen hatte, stand auf der Schwelle und lächelte gut gelaunt trotz des Nieselregens, der ihre langen blonden Haare an ihrem Kopf kleben ließ.

»Mrs. Aston?«

»Nein, ich bin eine Freundin. Mrs. Aston ist unpässlich. Sie werden sicher verstehen, dass sie nicht mit der Presse zu reden wünscht.«

»Wie steht es mit Ihnen?«, fragte die junge Frau beharrlich.

»Wie nimmt Mrs. Aston diesen Schicksalsschlag auf? Haben Sie einen Verdacht, wer der Mörder sein könnte? Kann ich Ihren Namen haben?«

»Nein, können Sie nicht.« Wenn diese eifrige junge Frau je herausfand, dass Meredith die Leiche entdeckt hatte, war jegliche Hoffnung auf Ruhe und Frieden für eine Weile dahin.

»Es gibt nichts, das irgendjemand Ihnen erzählen könnte. Bitte gehen Sie wieder.« Meredith schloss die Tür.

»Sie kommt zurück«, warnte sie Ruth, als sie zum Kamin im Wohnzimmer zurückgekehrt war, wo Ruth immer noch zusammengekauert in ihrer Ecke des Sofas saß.

»Entweder sie oder einer ihrer Kollegen. Soll ich uns einen Tee machen?« Als sie mit dem Tee zurückkam, kniete Ruth vor dem Kamin und legte ein weiteres Scheit auf die Glut. Ohne aufzublicken sagte sie:

»Ich werde dieses Haus verkaufen, wissen Sie?«

»Ehrlich, Ruth, ich habe es eben ernst gemeint mit dem, was ich gesagt habe. Sie sollten jetzt keine voreiligen Entscheidungen treffen«, drängte Meredith.

»Ich wollte nie hier leben, Herrgott noch mal! Es war die Idee meines verstorbenen Mannes! Wäre nicht Hester gewesen, ich wäre nicht hier geblieben, nachdem er gestorben ist! Hester mochte dieses Haus. Ich habe es ihr sogar in meinem Testament vermacht …« Ruths Stimme bebte kurz.

»Und jetzt will ich den Staub von Lower Stovey von meinen Füßen schütteln, und zwar für immer.« Sie blickte über die Schulter zu Meredith.

»Also, falls Sie und Ihr Freund ein Haus kaufen wollen, The Old Forge steht zum Verkauf.« Irgendetwas in Merediths Gesicht schien ihre Gefühle zu verraten. Ruth lächelte halb elend, halb triumphierend.

»Sehen Sie? Sie wollen ebenfalls nicht in Lower Stovey leben. Ich kann es Ihnen verdammt noch mal nicht verdenken!«

Nirgendwo war eine Spur von einem der jungen Reporter zu sehen, und die Vordertür des Fitzroy Arms war geschlossen, als Meredith später Ruths Haus verließ. Einem Impuls folgend, lenkte sie ihren Wagen trotzdem auf den kleinen Parkplatz des Pubs und stieg aus. Es hatte inzwischen aufgehört zu regnen, und sie bahnte sich einen Weg zwischen den Pfützen hindurch zur Rückseite des Hauses, wo sie wie erhofft ein Zeichen von Leben vorfand. Die Hintertür stand weit offen, und aus dem Innern drangen Stimmen. Meredith klopfte, und bevor jemand antworten konnte, trat sie ein.

Sie befand sich in einer großen Küche. Norman und seine Frau saßen am Küchentisch. Vor ihnen stand ungewaschenes Geschirr, und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass Meredith in eine heftige Diskussion geplatzt war, wenn nicht in einen richtiggehenden Streit. Selbst Normans normalerweise bleiches Gesicht war gerötet und lebhaft. Als Meredith auftauchte, verstummten beide, saßen reglos da und starrten sie mit offenen Mündern an.

Normans Frau gewann als Erste die Fassung zurück.

»Hallo, meine Liebe«, sagte sie, und ihr rundes Gesicht verzog sich zu einem bedeutungslosen Lächeln. Ihre kleinen Augen leuchteten angsterfüllt.

Die Stimme seiner Frau schien auch Norman aus seiner Erstarrung zu wecken. Er sprang auf.

»Evie, geh nach vorn und überprüf die Bar. Wir machen in einer Stunde auf.«

Evie trottete gehorsam davon, und Norman wandte sich Meredith zu.

»Wir haben noch geschlossen«, sagte er.

»Ich dachte eigentlich, das wäre zu sehen.«

»Ich möchte nichts trinken«, erwiderte Meredith.

»Ich wollte mich auf ein paar Worte unterhalten, das ist alles.« Sein Gesichtsausdruck war angespannt und verärgert.

»Die ganze Welt will sich plötzlich auf ein paar Worte mit mir unterhalten, wie es scheint! Zuerst die Bullen, dann die Presse, und jetzt Sie! Worüber wollen Sie sich denn mit mir unterhalten, eh? Sagen Sie nichts, ich kann es mir denken!«

»Sie wissen, dass ich es war, die den Leichnam von Hester Millar gefunden hat«, sagte Meredith. Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Natürlich weiß ich das, verdammt! Jeder weiß es! Was hatten Sie überhaupt in unserer Kirche zu suchen, frage ich mich! Und heute Morgen wollten Sie schon wieder rein, nicht wahr? Ich hab Sie nämlich beobachtet. Sie können die Sache nicht auf sich beruhen lassen, wie? Sie gehören zu der Sorte, die ständig und überall Scherereien macht!« Meredith wurde bewusst, dass sie mit ihrer Einschätzung richtig gelegen hatte. Der Wirt gab ihr die Schuld an dem, was geschehen war. Sie ignorierte seine Frage und stellte im Gegenzug selbst eine.

»Haben Sie mich auch am Donnerstagmorgen in die Kirche gehen sehen, als Miss Millar starb?« Wenn er eine Frage erwartet hatte, dann nicht diese. Sie brachte ihn aus der Fassung.

»Nein«, sagte er nach einer merkbaren Pause.

»Wie sollte ich?«

»Das Pub liegt ziemlich genau gegenüber. Sie haben mich heute Morgen beobachtet, als Sie draußen vor Ihrem Lokal gestanden haben. Am Donnerstagmorgen waren Sie in Ihrem Schankraum. Ich war bei Ihnen und habe einen Kaffee getrunken. Es wäre nur natürlich, wenn Sie mich durch das Fenster beobachtet hätten, nachdem ich gegangen war.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil Sie sehen wollten, wohin ich gehe«, entgegnete Meredith gelassen. Norman neigte den Kopf zur Seite.

»Es war mir vollkommen schnuppe, wohin Sie gehen. Und ich hab Sie nicht gesehen.«

»Und auch sonst niemanden? Ihren Onkel Old Billy Twelvetrees beispielsweise?«

»Lassen Sie Onkel Billy aus dieser Sache!« Norman machte einen Schritt auf Meredith zu.

»Er ist achtzig Jahre alt und hat Probleme mit seiner Hüfte und der Angina. Leute, die ihn belästigen, kann er überhaupt nicht gebrauchen! Ein Bulle war schon bei ihm zu Hause und hat ihm eine Menge dämlicher Fragen gestellt!«

»Aber Sie haben ihn gesehen?«, beharrte Meredith.

»Weil ich nämlich glaube, dass ich ihn gesehen habe, in der hinteren Ecke des Friedhofs.« Sie hatte Norman einen Fluchtweg eröffnet.

»Ach ja, das!«, sagte er triumphierend.

»Ich hätte ihn von hier aus gar nicht sehen können, verstehen Sie? Ich kann die Kirche sehen, aber ich kann nicht um die Ecke sehen. Ich bin nicht Superman, wissen Sie? Ich kann nur ein ganz kleines Stück vom Kirchhof sehen, direkt vorne an der Straße.« Meredith wurde bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie wechselte das Thema.

»Haben Sie gesehen, wie Miss Millar die Kirche betreten hat?« Norman brachte sein wenig attraktives Gesicht dicht vor das von Meredith.

»Nein. Die Polizei hat mich das auch schon gefragt! Ich habe ihnen das Gleiche erzählt, was ich jetzt Ihnen erzähle! Das Gleiche wie den Schnüfflern von der Presse. Ich würde dem Papst das Gleiche erzählen, wenn er hier auftauchen und fragen würde!«

»Haben Sie Miss Millar überhaupt an jenem Morgen gesehen? Als sie hier vorbeikam, beispielsweise?«

»Warum fragen Sie mich das?«, wollte er wissen.

»Weil Sie in Ihrer Bar waren!«, blaffte Meredith zurück.

»Und was habe ich in meiner Bar gemacht? Ich verrate es Ihnen, meine Gute. Ich habe gearbeitet. Eine der Bierpumpen hat verrückt gespielt, und ich musste sie reparieren. Danach habe ich die Sauerei beseitigt, und ich war gerade damit fertig, als Sie hereingewalzt kamen und Kaffee verlangt haben! Wenn man ein Pub führt, dann hat man keine Zeit, um aus dem Fenster zu starren oder sich hinzustellen und mit naseweisen Fremden zu schwatzen, die nach Lower Stovey kommen und Ärger machen.«

»Ich habe keinen Ärger gemacht!«, widersprach Meredith aufgebracht.

»Das ist unfair!«

»Aber selbstverständlich haben Sie Ärger gemacht! Alles war in bester Ordnung, bevor Sie hier aufgetaucht sind und Leichen gefunden haben!«

»Jemand anders hätte sie früher oder später gefunden!«

»Aber nicht Sie, oder? Eine verdammte Fremde. Wenn einer von uns …« Norman brach ab, das Gesicht hochrot und mit vorquellenden Augen.

»Los, reden Sie weiter«, provozierte Meredith ihn.

»Wenn einer von Ihnen die Tote gefunden hätte, was dann? Was hätten Sie gemacht?«

»Die Polizei gerufen!«, entgegnete er. Er atmete tief durch.

»Und jetzt verschwinden Sie. Lassen Sie mich in Ruhe, okay?« Meredith ging ohne ein weiteres Wort.

»Ich war heute bei Ruth«, berichtete Meredith an jenem Abend, während sie misstrauisch in einen Topf mit kochender Pasta spähte.

»Sie hält sich ganz gut, wenn man alles bedenkt. Sie sagt, Sergeant Holding wäre nett gewesen, aber sie konnte keine der Fragen beantworten, die Holding ihr gestellt hat.«

»Wir stehen noch am Anfang der Ermittlungen«, erwiderte Markby geistesabwesend.

»Vielleicht fängt Ruth in ein oder zwei Tagen an, sich an Dinge zu erinnern. Sobald der erste Schock abgeklungen ist.«

»Es sieht nicht danach aus, als gäbe es etwas zu erinnern. Keine der beiden Frauen hatte Feinde, nach Ruths Worten, und es fällt schwer sich vorzustellen, wie sie sich welche hätten machen sollen. Sie hatten offensichtlich nicht viel Kontakt mit den übrigen Leuten aus dem Dorf. Und keine der Frauen hat eine Familie.« Sie angelte mit einer Gabel eine Nudel aus dem Topf und hielt sie Markby hin.

»Hier, probier mal und sag mir, ob sie al dente ist.«

»Sie ist jedenfalls heiß!« Markby bugsierte die Nudel in seinem Mund herum.

»Ich denke, sie ist gut. Warte, lass mich die Nudeln abschütten.«

Er trug den Topf zum Spülbecken. Meredith wartete, bis das kochende Wasser abgelaufen war.

»Alan?«

»Hm?«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass Ruth Hester umgebracht hat, oder?« Er drehte sich überrascht zu ihr um, und das Wasser aus dem Sieb mit den Nudeln tropfte auf den Küchenboden.

»Wir haben noch keinen Verdächtigen. Warum sollte ich denken, dass Ruth ihre Freundin ermordet hat?«

»Ich weiß es nicht. Aber Ruth scheint zu denken, dass sie eure Hauptverdächtige ist … weil sie die letzte Person ist, die Hester lebend gesehen hat.«

»Bis jetzt. Vielleicht meldet sich noch jemand, der Hester später gesehen hat. Ruth ist nicht unsere Hauptverdächtige. Wir haben im Moment überhaupt keinen Verdächtigen.«

»Aber sie steht auf eurer Liste möglicher Täter?« Alan hatte das Tropfsieb auf das Ablaufbrett gestellt und wischte das verschüttete Wasser auf. Sie konnte nur seinen blonden Haarschopf sehen, unter dem seine Stimme hervorkam.

»Jeder steht auf meiner Liste möglicher Täter.« Er richtete sich auf und sah sie an.

»Betrachte es von dieser Seite. Du hast Hester gefunden. Ich könnte sogar dich verdächtigen. Sieh mich nicht so an! Sie war seit anderthalb Stunden tot, als du in diese Kirche spaziert bist, jedenfalls nach Fullers Meinung.« Meredith starrte ihn an.

»Sie war die ganze Zeit in der Kirche, und niemand hat sie gefunden?«

»Ah«, sagte Markby.

»Jetzt kommen wir endlich zur Hunderttausend-Pfund-Frage.«

»Das bringt uns zurück zu Old Billy Twelvetrees, nicht wahr? Ich hab ihn gesehen, Alan. Ich schwöre, dass er es war!«

»Er streitet es ab und er ist beharrlich. Allerdings halte ich ihn nicht gerade für einen ehrlichen Menschen.« Alan starrte düster auf die Pasta im Sieb, als könnte sie ihm widersprechen.

»Ich meine, seine Einschätzung, was richtig ist und was nicht, erfolgt ganz und gar nach dem, was ihm gerade in den Kram passt. Er würde es nicht Lügen nennen, und das ist das Unangenehme, wenn man es mit Leuten wie ihm zu tun hat.«

»Aber du und ich würden es Lügen nennen?«

»Aufrechte Bürger wie wir würden es wahrscheinlich so nennen, ja. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass er lügt, aber worüber? Dass er nicht in der Kirche war? Oder über irgendetwas ganz anderes?« Markby seufzte.

»Das Dumme mit solchen Leuten ist, dass sie oft gar nicht im Stande sind, einem nur die einfachen Fakten zu nennen. Sie lügen ganz ohne Grund. Die Frage ist: Hat der alte Mann einen Grund oder nicht? Oder lügt er einfach so?«